die taz vor zehn jahren: Mathias Bröckers über hanf und die verhüllung des reichstages
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Natürlich haben wir versucht, Christo im Vorfeld für einen in Hanfstoff verpackten Reichstag zu begeistern. Carola Hepp, die für das ZDF einen Film über den Kahlschlag von Regenwäldern für deutsche Telefonbücher und die Alternative Hanfpapier gedreht hatte, sprach den Künstler nach einem Interview darauf an. Der Maestro meinte dazu, ein Naturstoff sei nicht robust genug, um den vielen Brüstungen und Kanten des Reichstags standzuhalten. Außerdem hätte er nicht den spiegelnden Metallic-Effekt, der sehr wichtig für das Projekt sei. Deshalb also eine aluminiumbedampfte Syntheticfaser, die recycelfähig ist, wobei dies kaum eine Rolle spielen dürfte. Die Fans sind so scharf auf einen Fetzen Kunst, daß die 100.000 Quadratmeter Stoff so schnell weg wären wie die eine Million briefmarkengroßen Reliquien, die ohnehin an die ZuschauerInnen verteilt werden. Der Hanf zum Gesamtkunstwerk Christo fehlt also – als Zeichen für eine nachwachsende, grüne Ökonomie – ansonsten aber scheint alles perfekt. Ein riesiges, relaxtes Happening mitten in Berlin – ohne Tingeltangel, ohne dröhnende Musik, einfach mit einem stumm verpackten Gebäude. Insofern ist Christos Reichstagsprojekt absolute Minimal art: Andere Künstler kommen ohne ein riesiges Arsenal von Tönen oder Bildern nicht aus. Hier reicht ein bißchen Stoff, um die Massen in Bann zu ziehen.

Trotz dieser Ortsmagie geht es rund um den Reichstag nicht weihevoll und walhallamäßig zu, sondern eher fröhlich wie bei Bolle, mit Kartoffelsalat und Picknick. Die Grünflächen, sonst Grillrevier und öffentliche Gartenterrasse, ziehen nicht nur tout Berlin, sondern auch den Rest der Welt an. Letzterer erlebt den muffigen, sturen Deutschen hier von einer anderen, unbekannten Seite: zurückgelehnt und entspannt. Was hatten sich im Vorfeld Politiker jeder Couleur ereifert über die Idee, den nationalen Mythos Reichstag durch Verpackung zu entwerten. Jetzt stellt sich heraus: Nie war er so wertvoll wie heute.