Rasender Stillstand

Political Studies (1): Angesichts der bevorstehenden Neuwahlen herrschen Pragmatismus im Wahlvolk – und Sehnsucht nach Differenz. Wo im Kern des Politischen die Unterschiede verschwimmen, dient die „Generation“ als letztes Distinktionsmerkmal

■ Wie immer die Neuwahlen ausgehen – auf dem weiten Feld zwischen Politik und Leben hat sich etwas verschoben. Wie steuerbar ist die Gesellschaft eigentlich? Was kann Politik, was soll sie können – und was nicht? In unserer Serie „Political Studies“ überlegen AutorInnen, welche Rolle Politik in ihrem Leben spielt, ob die offizielle Politik das Politische noch zu repräsentieren vermag. Um Bilanz und Ausblick soll es gehen – von rot-grüner Trauerarbeit bis hin zur kühlen Analyse der Lage. Die Ergebnisse lesen Sie jede Woche an dieser Stelle

VON STEFAN REINECKE

Vertrauensfrage, Neuwahlen, das Ende von Rot-Grün – an politischen Großereignissen ist derzeit kein Mangel. Trotzdem liegt eine merkwürdig abgeklärte Müdigkeit über allem. Das Publikum nimmt die historischen Daten wurschtig zur Kenntnis: „Schröder will Neuwahlen – meinetwegen, aber erst nach dem Urlaub.“ Es erfüllt ordentlich seine Pflicht, indem es eine Regierung, die offenkundig nicht mehr will, in die Opposition schickt und eine Opposition wählen wird, von der es bestenfalls nicht weiß, was diese eigentlich will.

Was bedeutet diese Mischung aus politischen Trubel und Achselzucken? Offenbar haben Lebenswelt und Politik nicht mehr so viel mit einander zu tun wie früher. Auf der Linken macht sich dies in einer bemerkenswerten Abwesenheit von Hysterie bemerkbar: Stell dir vor, Beckstein und Koch werden Minister – und niemand will auswandern! Niemand fürchtet sich wirklich vor einem Kulturkampf, in dem die Union Frauen wieder an den Herd, Migranten nach Hause und Soldaten an die Front schicken wird. Gelegentlich zuckt mal ein Rest von linkem Alarmismus auf, aber im Grunde hält man Beckstein oder Stoiber eher für ästhetische Zumutungen als für echte Bedrohungen.

Denn wir wissen ja, dass Politik geistig-moralische Wenden nicht verordnen kann. Die Gesellschaft ist dafür zu stark, zu autonom, die Politik zu schwach. Je differenzierter, vielgestaltiger eine Gesellschaft ist, umso mehr ist sie ein eigensinniges, steuerungsresistentes Wesen, in dem offizielle Politik halt nur ein Subsystem neben anderen ist. Nicht zufällig waren doch die 80er-Jahre, die Kohl-Ära, die Hochzeit der sozialen Bewegungen, ohne die es Rot-Grün nie gegeben hätte. Auch unter Merkel wird es noch Ökoläden, Schwulenzeitungen und Subventionen für linke Kulturprojekte geben. Oder nicht?

Vermutlich doch. Wir sind im Jahr 16 nach Ende des Kalten Krieges halt im Postideologischen angekommen. Der Unterschied zwischen SPD und Union, der ein ferner Widerhall der globalen Freund-Feind-Konstellationen war, ist kleiner geworden. Der Lagerkonflikt ist symbolisch und real entkernt. Dafür hat vor allem Rot-Grün gesorgt. Es hat Kriege geführt, die Steuern für Reiche gesenkt und den Sozialstaatsab- und -umbau vorangetrieben. Die Merkel-Union scheint umgekehrt kulturell zaghaft auf dem Weg in die Mitte zu sein. Mit dem Fall Hohmann hat sie die früher äußerst dehnbare Grenze nach rechts außen symbolisch geschlossen. Das Altbackene, Honoratiorenhafte tritt in der Merkel-Union in den Hintergrund. Ihr Blick auf die liberalisierte Post-68er.Republik mit Multikulti und halber Homoehe fällt eher pragmatisch aus.

Dies spiegeln auch die Milieus, deren intellektuelles Setting und deren Lebensstil ähnlicher sind als vor zehn Jahren. Das neobürgerliche rot-grüne Milieu ist von dem noch in ziemlich diffuses Licht getauchten neokonservativen kaum zu unterscheiden. Man kauft die gleichen Autos (ein bisschen öko, aber nur, wenn es nicht zu teuer ist), denkt werteorientiert, versteht sich und spendet Weihnachten 100 Euro an amnesty international.

Ist also alles in ziviler Ordnung? Pragmatismus überall? So sieht es aus, aber darunter gärt etwas anderes, eine Unzufriedenheit, etwas Ungelöstes, eine Sehnsucht nach Differenz, auch etwas Depressives. Mehr als die Hälfte der Wähler ist entschlossen, die Union zu wählen, aber noch nicht mal die christdemokratische Stammklientel glaubt, dass es eine konservative Regierung im politischen Kernbereich, der Wirtschafts- und Sozialpolitik, besser machen wird. Offenbar scheinen die Wähler zu der paradoxen Antwort entschlossen, Rot-Grün wegen der Agenda 2010 abzuwählen – und stattdessen die Union für eine verschärfte Agenda 2010 zu wählen. „Wir sind sauer wegen Hartz IV, deshalb wählen wir die Kopfpauschale“ – darin liegt ein masochistisches Moment, eine Verzweiflung, die nicht zur Sprache kommt.

Gleichzeitig spricht daraus auch eine Nüchternheit, eine illusionslose Einschätzung der Lage. Die Einflussmöglichkeiten des Nationalstaats sind im globalisierten Kapitalismus rapide gesunken. Vollbeschäftigung mit Normalarbeitsverhältnissen wird es nicht mehr geben. „Die Nachfrage nach Arbeit sinkt (durch den Einsatz intelligenter Technologien), das Angebot durch Arbeit steigt (auch durch die Globalisierung)“, schreibt Ulrich Beck in seinem Aufruf „Was zur Wahl steht“.

Die Politik aber antwortet darauf, von WASG bis CSU, mit Realitätsverweigerung und dem Schlachtruf „Arbeit, Arbeit, Arbeit“. Sie verhält sich so wie die Ritter im späten Mittelalter, die auf die Erfindung des Pulvers antworteten, indem sie ihre Panzerungen verstärkten – und immer unbeweglicher wurden.

So wird auch unter Merkel die hektische Reform-Ratlosigkeit weitergehen. Steuern für Reiche werden gesenkt, der Sozialstaat unten wird gekappt, das Publikum wird verdrossen zuschauen. Was fehlt, ist die Möglichkeit, etwas ganz zu machen. Deshalb fühlt sich alles so gleich an.

So wächst eine Sehnsucht nach Differenz, nach klaren Fronten. Der letzte Schrei auf diesem Markt ist die „Generation“. Das Konzept, Politik unter dem Aspekt der Generation zu betrachten, hat leicht etwas Windiges. So kann man seit 15 Jahren eine wundersame Vermehrung der „Generationen“ verfolgen, die auf- und meist auch schnell wieder abtauchten. Auf die 78er, die kleinen ironisch gestimmten Geschwister der berühmten 68er, folgten die 89er, die Wendegeneration, der die Generation Golf auf den Fersen war. Danach wurden mit Fanfarenstößen noch ein paar Generationen ausgerufen – allerdings ohne richtigen Erfolg.

Der Generationshype scheint ein Bedürfnis nach Identifikation zu befriedigen. Politisch sind wir alle Liberale geworden, kulturell alle Teil der gleichen Pop- und Massenkultur, und in der politischen Kernfrage, der Arbeit, werden Alternativen nur simuliert. In dieser Lage steigt offenbar das Bedürfnis nach virtuellen Abgrenzungen. My Generation, das sagt sich leicht – gender, class, race scheinen als Kriterien jedenfalls außer Mode zu sein.

Das Gerede von den „Generation“ neigt zu einem folgenlosen, aber bedeutsamen Ungefähr, zu einer ebenso auftrumpfenden wie flüchtigen Geste. Populär ist das nervtötend inflationäre Generationsgerede nicht trotzdem, sondern gerade deshalb. Es verspricht eine Zugehörigkeit, die nichts kostet.

In der taz war kürzlich zu lesen, dass die Generationsfrage nun sogar das politische Zentrum bestimmt (taz, 30. 5. 2005): „Schwarz-Gelb ist in erster Linie ein Generationenprojekt“ – nämlich aller, die bislang unter der Knebelung durch die rot-grünen Post-68er Qualen litten und nun, an der Seite der juvenilen Merkel & Stoiber, endlich an die Macht kommen. Den Adel, zu dieser Generation (wahlweise: Guido, Gabriel, Angie, Frank – beliebig erweiterbar) zu gehören, erwirbt man sich dadurch, es für mitteilenswert zu halten, noch nie Adorno gelesen zu haben. In diesem Wichtigkeitsgerede werden die Karrierefrustrationen von Politikern umstandslos zu Generationsfragen hochgejazzt.

Die Generationsfrage als existenzielle Geste hat Frank Schirrmacher in der FAZ entdeckt. Wenn jetzt nicht reformiert wird, dass es kracht, komme für die über Dreißigjährigen alles „lebensgeschichtlich zu spät“. Dies ist die moralische und dramatische Rahmung für eher banale Interessenpolitik. Zur Abwahl, so Schirrmacher, steht „Claudia Roth“, das Symbol für den Tugendterror, mit dem die Linke dem Bürgertum ein schlechtes Gewissen eingeredet hat. Damit ist jetzt Schluss. Will sagen: Wir spenden meinetwegen weiter für amnesty, aber die Steuern müssen runter. Die 30- bis 50-jährigen Bürger wollen nicht mehr für die da unten zahlen. Das ist eine soziale Kampfansage – camoufliert als Generationsdiskurs.

Das bizarrste Beispiel für den derzeitigen Generationshype ist Marek Dutschke, den sein Name und seine Jugend zum Kultobjekt gemacht haben. Für den Popautor Joachim Lottmann reicht es in der taz, dass Dutschke jung ist, nichts von Hartz IV weiß, um als Messias zu erscheinen, der von den alt geworden Grünen ans Kreuz genagelt wird. So wird Marek Dutschke zum Symbol, das zeigt, dass „der ganze verdammte Parlamentarismus“ (Lottmann) nichts wert ist. Damit ist das Generationsfeuilleton im letzten Stadium, der Hysterie, angekommen.

Die ästhetische Beurteilung von Politik war 1998 durch Rot-Grün so richtig in Mode gekommen. Was „Joschka“ politisch machte, war für die Klientel oft unwichtiger, als dass er „einer von uns“ war und immerhin manchmal so redete wie früher.

Das Generationsgerede 2005 schließt an diese Verwandlung von Politik in Stilfragen an – und steigert es. Es ist eine intellektuelle Verfallserscheinung, ein Krisensymptom und eine Ersatzhandlung. Weil in Kernbereichen des Politischen die Unterscheidungen verschwimmen, weil unklar ist, was überhaupt zur Wahl steht, klammert man sich an die Generation als letztes Distinktionsmerkmal. Das Zentrum der Politik scheint leer, die Ränder werden hypertroph.

Stefan Reinecke, 46, lebt in Berlin und ist Autor der taz