Von Bauch zu Bauch

Die Macht der Sprache und die Wahrheit des Körpers: Danach fahndeten im Theater der Welt in Stuttgart Performer mit Handicap aus verschiedenen Kulturräumen

von SABINE LEUCHT

Dieser „Bauch“ hat ein Gesicht. Er trägt ein blaues Kleid und spricht mit jener „inneren Stimme“, die die meisten wohl im zerebralen Bereich verorten. Im Mittelalter haben Ärzte die Eingeweide nach ihr durchwühlt – und sie lägen in diesem Fall gar nicht mal so falsch. Denn der ewige Querschläger und Ego-Kitzler, der einem gut zuredet und ins Gewissen pfuscht, ihn gibt der indianische Bauchredner Buddy Big Mountain praktisch direkt in die kulleräugige Kameradin auf seinem Schoß hinein: Eine Übertragung von Bauch zu Bauch! Denn die Bauchrednerpuppe, die von der in Berlin lebenden Künstlerin Asta Gröting gestaltet wurde und ihr seit mehr als zehn Jahren als Instrument der Seelenforschung dient, ist die innere Stimme des Bauchredners, wie er selbst in mehr als einem Sinne die (innere) Stimme der Puppe ist. In der Performance „The Inner Voice – I am Big“, die beim Festival Theater der Welt in Stuttgart uraufgeführt wurde, haben beide beim Einander-Mut-Machen am Ende exakt die Rollen getauscht und ein hübsches, stilles Rätsel in die Welt gesetzt, von dem man gerne ein paar mehr gesehen hätte.

Kurz bevor das Festival in sein letztes Drittel geht, hat sich eine Art Enzyklopädie der Körper-Bilder eingefunden, aus vielen Ländern kommend und unterschiedliche Stile und Räume durchstreifend. Kulturschaffende Frauen aus islamisch dominierten Ländern hatten den Körper auf die Agenda eines Symposiums gesetzt und diskutiert, ob die persönliche Fortspinnung von Eve Enslers „Vagina-Monologen“ ein Anfang sein könnte, um die eigene Sexualität zu entdecken. Oder ob man durch das verbale Umkreisen des Sexuellen das Problem nicht ungeheuer banalisiert. Frauen in Ländern wie Pakistan werde doch sogar die Luft zum Atmen abgesprochen, erregte sich die Theaterfrau Madeeha Gauhar. „Ich habe kein Leben“ hört man denn auch wie einen Refrain mehr als einmal Frauen sagen in Kutlug Atamans Video-Installation „Küba“.

Aber dann holt sich Ibsens Nora in „Mabou Mines DollHouse“ ihr Leben hyperdramatisch zurück: Vor lauter winzigen Logen mit mechanischen Zuschauern bricht aus der ins Puppenheim gesperrten Nora die große Oper heraus, die schon lange in dem künstlich klein gehaltenen Stimmchen vor sich hin tiriliert hat. Sie schmeißt ihre Perücke und ihr Ungetüm von Kleid, ihre Gattinnen- und Mutterpflichten von sich und steht dann da: ganz nackt. Ein starkes Bild – und doch ist die Pose zu groß und der gesungene Sermon zu sehr Sermon, als dass es ernst werden könnte mit der Befreiung.

Der Regisseur Lee Breuer hat eine sehr amerikanische Version des Ibsen-Klassikers inszeniert: XXL, barock, „Money“-hörig, mit viel Hysterie und Zuckerguss. Doch dank einer stupenden Grundidee ist die Aufführung dennoch sehenswert, und bei halber Länge wäre sie vielleicht sogar gut: In ein viktorianisches Puppenhaus von einem Meter vierzig Höhe passen die Männer genau hinein, denn sie werden von kleinwüchsigen Schauspielern gespielt. Nora könnte sich ihren Helmer leicht unter den Arm klemmen und tut es auch, doch kaum nennt er sie „Eichkätzchen“ und „You helpless little thing“ sitzen die Dimensionen wieder wie gewohnt.

Die Männer – und die Worte – haben hier die Definitionsmacht inne. Der Körper des Einzelnen, der in der fulminanten Installation „Of all the people in all the world“ durch ein Reiskorn vertreten wird, erobert sich auf der Bühne seine Schwere zurück. Von Gewicht aber ist er nur, wenn auch die Verhältnisse dafür stimmen. Die Reisberge in der Wagenhalle am Nordbahnhof, säuberlich abgewogen von den Performern von „Stan’s Cafe“, sind noch immer das Herzstück des Festivals. Sie spiegeln die Welt in Anzahl und Masse. Hier lernt man, wie leicht wir wiegen im Vergleich und was darüber bestimmt. Hier sieht man den Haufen der Toten des 11. September und den ebenso großen der jährlichen Opfer des Straßenverkehrs weltweit. Und dann die Riesendüne der HIV-Infizierten in Afrika. Vor der Wucht dieser Fakten nimmt sich jedes Theater nur wie ein Kommentar dazu aus.

Als Zuschauer der japanischen Produktion „The Legend of Maha-Laba-Village“ braucht man eine ganze Weile, bis man im Ensemble Taihen überhaupt darauf achtet, wer Frau und wer Mann auf der Bühne ist. Lange Zeit gibt es schließlich Wichtigeres zu beachten, und dieser Abstand von jeglicher Geschlechterdramatik ist auffallend wohltuend. Wenn die sieben Tänzer in engen Trikots über die Bühne rollen und robben, dann spielt sich hier ein ungewohnt abgespreizter Fuß in den Vordergrund, da ein Armstumpf, eine unwillkürliche Grimasse oder der seltsame Winkel eines durch Kinderlähmung geschädigten Hüftgelenks. Die Choreografin Manri Kim hat „Taihen“ vor 22 Jahren in Osaka gegründet. Der Name bedeutet sowohl „eigenartig“ als auch „Metamorphose“, und alle Mitwirkenden sind so schwer körperbehindert, dass sie im Alltag rund um die Uhr versorgt werden müssen. Auf der Bühne sind sie souverän, auch wenn sie teils nur im Liegen agieren können. Sie lecken nicht ihre Wunden, sondern erzählen eine undeutliche Geschichte von Gemeinschaft, Liebe und Verrat mit verstörend schönen und fremden Bildern. Die Sprache ihres Tanzes ist wie jeder ihrer Körper: Einzigartig. So bereiten (ausgerechnet) Japaner der Individualität ein fröhliches Fest. Für solche Aha-Erlebnisse jenseits aller Klischees des Exotischen ist so ein Festival auch da.