Vom Visuellen zum Visionären

Mehr als Damenbart und bunter Rock: Einer großen Retrospektive in der Londoner Tate Modern gelingt es, den Blick von der mythisch überhöhten Figur Frida Kahlo abzuwenden, so dass die außergewöhnliche Malerin in den Mittelpunkt rückt

von MAGDALENA KRÖNER

Ihre Malerei sei „wie ein farbiges Band um eine Bombe“, sagte André Breton über Frida Kahlo. Die Brisanz und das Originäre dieser unverwechselbaren Malerei hinter dem überlebensgroßen Mythos Frida Kahlo zu zeigen, ist das Verdienst der ersten Kahlo-Retrospektive seit zwanzig Jahren, die sich ausführlich dem Spätwerk widmet, aber auch frühe Zeichnungen und Selbstporträts aufzubieten weiß.

Zur Eröffnung schien Kuratorin Emma Dexter zunächst alle Klischees zu bestätigen, indem sie für die eiligen Kameras der britischen Tagespresse mit buntem Kahlo-Motiv-Schal vor den Gemälden posierte. Ins Bild passte auch die vom Haus angebotene Merchandise-Palette mit Frida-Anziehpuppe, Frida-Schmuck und mexikanischem Kunsthandwerk.

Die Kahlo als Produkt funktioniert nach wie vor, wie es die in diesem Sommer wiederkehrende bunte Ethnomode zeigt: mit weiten Röcken und bestickten Blusen, großen Bernsteinketten und schweren Silberringen. Vor ein paar Jahren gab es bereits den bunt-bewegten Hollywoodfilm „Frida“, mit Salma Hayek in der Titelrolle, in dem die Hauptdarsteller ein groteskes, spanisch gefärbtes Englisch sprachen. Die Zurichtung und Konsumtion der Künstlerin Kahlo als popkulturelle Matrix; als lebensfroh-authentisches Happening inklusive jeder Menge Sinnlichkeit und der gerade richtigen Prise Lust und Leid – sie ist erfolgreich wie eh und je.

Die Ausstellung selbst gibt sich denkbar unbeeindruckt von derlei Kommerzialisierung und öffnet den Blick auf die Malerin Kahlo, die in einzigartiger Weise malerische Erfindungen und einen radikalen weiblichen Subjektivismus avant la lettre in die Malerei brachte.

Kahlo war eine selbstbewusste und sich ihrer inszenatorischen Macht bewusste Frau, die Rollen anprobierte wie Kleider und sich diejenigen aussuchte, die am besten zu ihr und ihrer künstlerischen Identität passten. So probierte die junge Kahlo das kämpferische Kleid der Revolution, nachdem sie zuvor das flatternde Gewand der Bohème gern getragen hatte. Stilisierte sie sich in ihrem ersten bekannten Selbstporträt mit Samtkleid von 1926 in Anlehnung ans alte Europa eines Botticelli oder Bronzino als Ikone europäischer Eleganz, so malte sie sich bereits ein Jahr später als Kind der Revolution in „Pancho Villa und Adelita“.

Kahlo überließ ihre Selbstmystifikation nicht dem Zufall – so verlegte sie ihr Geburtsdatum von 1907 auf 1910, dem 100. Jahrestag der mexikanischen Unabhängigkeit, und verschleierte sowohl ihre familiäre Herkunft als auch weitere biografische Umstände wie etwa ihre zahlreichen Affären unter anderem mit Leo Trotzki, dem Sammler Heinz Berggruen oder dem Fotografen Nickolas Muray. Seine Fotografien zeigen die Kahlo als Ikone, gehüllt in kostbare leuchtende Stoffe, aber auch als Mater dolorosa mexikanischer Prägung, als die sie sich zeitlebens auch sah.

Dankenswerterweise frönen Emma Dexter und Kokuratorin Tanya Barson nicht dem intellektuellen Boulevard: Kahlo wird weder als frühfeministische Galionsfigur noch als Märtyrerin gezeigt. In den Mittelpunkt rückt ihre Arbeit. Nicht die spektakuläre Inszenierung der biografisch und von einer feministischen Rezeption kultisch überfrachteten Figur interessiert hier. Man präsentiert die Bilder der Kahlo – ein paar kleine Texttafeln dazu, sonst nichts. Keine plakativen Farben oder sonstiger ausstellungsarchitektonischer und didaktischer Firlefanz.

Die bildnerische Kraft der Frida Kahlo besticht in ihren Originalen, die in Europa bislang kaum zu sehen waren, weil die meisten von ihnen frühzeitig in private Sammlungen verkauft wurden. In ihnen stößt eine bewusst naive Bildauffassung auf motivischen und formalen Erfindungsreichtum und innovative Bildsetzungen. Mexikanische Volkskunst trifft Futurismus und Neue Sachlichkeit; Esoterik trifft Katholizismus.

Zeitlebens blieb Kahlo als Malerin unverortet: Zwar holte André Breton sie 1940 in seine Internationale Surrealismus-Ausstellung, doch sah sie selbst sich nicht unbedingt als Surrealistin. Sie distanzierte sich insbesondere nach einem Aufenthalt in Paris vom „leeren, intellektuellen Geschwätz“ der Surrealisten. Nichtsdestoweniger gewann ihre Arbeit im Umfeld des Surrealismus an Kraft und entsprach in vielem surrealistischen Fragestellungen. So lassen sich Überlegungen Bretons zum surrealistischen Blick auch auf Kahlos Arbeiten hin lesen, wenn er schreibt: „Welchen irrationalen Gesetzen gehorchen wir? Welche subjektiven Zeichen erlauben uns, in jedem Augenblick unseren Weg zu finden? Welcher Sinn liegt in jener Vorrichtung des Auges, die den Übergang vom visuellen zum visionären Sehen erlaubt?“ Auch die feministische und postfeministische Vereinnahmung, die Kahlo in eine Reihe stellt mit Künstlerinnen wie Mary Cassatt, Georgia O’Keefe, Ana Mendieta, wird Kahlos Werk nur bedingt gerecht.

Kahlo schöpfte wesentliche malerische Impulse vor allem aus der für ihre Zeit singulären Kombination von privater Mythologie und indigener Kultur, die in der unter Intellektuellen ihrer Zeit geschätzten Bewegung der mexicanidad gerade wiedererstarkte und Motiven und Techniken der Volkskunst wie etwa den retablos, kleinen Votivbildchen auf Blechamuletten, Aufmerksamkeit widmete. Markant für Kahlos originäre Kombination aus persönlichen Inhalten, mexicanidad und Esoterik ist etwa ihr berühmtes Selbstbildnis als „Tehuana“ von 1943, in dem Diego Rivera wie ein Mal in ihre Stirn geprägt ist. „Ich male meine Realität“, warf sie trotzig denen entgegen, die sie vorschnell aufs Fantastisch-Naive festzulegen trachteten.

Kahlo malte sich gerade in ihren späten Arbeiten pantheistisch-mystische Welten, so das überfrachtete, von der Beschäftigung mit östlichen Religionen, Mystizismus und von ihrer Freud-Lektüre inspirierte Weltentableau „Moses“ von 1945. In Arbeiten wie dieser scheint es, als sehnte sich Kahlo nach der Überwindung des in Antagonismen gedachten dualistischen Weltbildes, das bislang ihre Kunst dominierte. Dies illustriert in der Schau das berühmte Doppelporträt „Die zwei Fridas“ von 1939, aber auch „Die gebrochene Säule“ von 1944, in der das Bild des fragmentierten Rückgrats auf ein – seit ihrem schweren Straßenbahnunfall – nicht nur physisch zerrissenes Ich verweist, das durch die Säule in zwei Hälften geteilt als auch notdürftig und provisorisch zusammengehalten wird. In der Ausstellung weist eine Fülle früher Arbeiten wie Zeichnungen und erste Selbstporträts den Weg zur malerischen Selbstfindung Frida Kahlos. Sie war eine Meisterin der Inszenierung, sowohl in ihrer Malerei als auch in der eigenen Person – von Anfang an. Nach frühen, provokativ gewählten Hosenrollen, wie in einem Porträt der Familie, das Kahlos deutscher Vater, der Fotograf Carl Wilhelm (Guillermo) Kahlo 1925 aufnahm, wählte Kahlo, angeregt durch Diego Rivera, der sie ermunterte, sich mehr mit den indigenen Kulturen Mexikos auseinander zu setzen, die traditionelle Kleidung der südmexikanischen Tehuana-Frauen. Die bunten Blusen, Röcke, der Huipil – die markante weiße Spitzenhaube, die schweren Ketten und blumenverzierten Flechtfrisuren sollten ihr Markenzeichen werden.

Die umfangreiche Zahl an Selbstporträts, mit denen sich die Malerin über ein Jahrzehnt intensiv beschäftigte, besticht und macht Kahlos Ansatz deutlich: Das statuarische Ebenbild dient als Spiegel, der die unterschiedlichsten Einflüsse bündelt und bricht. Kahlo malte sich mit ihren Izcuintli-Hunden, mit Affen und Papageien und einer präkolumbianischen Statue, mit Dornenkrone um den Hals, und mit „Gedanken an den Tod“, der wie ein Amulett in ihre Stirn, zwischen die Augenbrauen geprägt ist – nach östlichen Lehren dem Punkt des Bewusstseins. „Ich hoffe, das Ende ist heiter und ich wünsche, nie zurückzukehren“, schrieb sie kurz vor ihrem Tod in ihr Tagebuch. Die Londoner Ausstellung zeigt: Das Authentische und das Indigene nutzte Frida Kahlo nicht zuletzt für eine sorgfältige Inszenierung. Diese wurde glaubwürdig über ihre Person, die aus schier unversöhnlich scheinenden Gegensätzen ein untrennbares Ganzes aus Leben, Persona und Weltbild strickte. Dies war für ihre künstlerische Identität überaus produktiv und begründete ihre singuläre Stellung und ihren Einfluss als Künstlerin bis heute.

Bis 9. Oktober, Katalog Hardcover, 35 £