Wer sich mit wem wann worüber unterhielt

Zu viele Metaebenen sind der Erzählung Tod: Jorge Semprúns neuer und leider nicht ganz gelungener Roman „Zwanzig Jahre und ein Tag“

Bevor man etwas Nachteiliges über diesen Roman sagt, muss man großen Respekt seinem Autor gegenüber bekunden. Der 80-jährige Jorge Semprún hätte es verdient, sich auf seinen literarischen und politischen Verdiensten ausruhen zu können. Aber er geht im hohen Alter gar noch das Wagnis eines Sprachwechsels ein. „Zwanzig Jahre und ein Tag“ ist der erste in seiner Muttersprache verfasste Roman des Spaniers, der einen Großteil seines Lebens im französischen Exil verbracht hat und seine Romane bisher grundsätzlich in der Sprache des Gastlandes schrieb.

Der Plot hat zunächst jene vieldeutige Interpretationsbreite und innere Spannung, aus der wirklich große Literatur entstehen kann. Allein der Titel scheint das zu versprechen: „Zwanzig Jahre und ein Tag“, das war einerseits ein gängiges Strafmaß, zu dem kommunistische Kader für mindere „Vergehen“ von der franquistischen Justiz verurteilt wurden. Zum anderen sind es genau zwanzig Jahre und ein Tag, die als Zeitbogen den inneren Handlungskern des Roman umspannen.

Sein Ort: ein herrschaftliches Gut in der Mancha, wo die vornehme Familie Avendaño lebt. Am 18. Juli 1934 marschiert ein Trupp bewaffneter revolutionär gestimmter Landarbeiter zum Gutshaus, um es zu enteignen. Dabei wird der jüngste Sohn des Hauses, ein liberaler, weltoffener junger Mann, erschossen. In den folgenden Jahren und Jahrzehnten etabliert der älteste Bruder, ein Faschist, ein seltsames Mysterienspiel, das jedes Jahr am Todestag des José Maria Avendaño stattfindet, wobei dessen Ermordung nachgespielt wird.

Die Landarbeiter und im Laufe der Jahre ihre Kinder müssen die Rolle der Mörder übernehmen und werden somit immer aufs Neue mit ihrer Schuld konfrontiert. Zwanzig Jahre nach dem Mord schließlich, und das ist der Zeitpunkt, zu dem die Erzählung einsetzt, soll die Zeremonie letztmals stattfinden und mit der endgültigen Beisetzung des Ermordeten und eines seiner Mörder gekrönt werden. Doch diesmal weigern sich die Landarbeiter, mitzuspielen. Was für ein Sujet! In der Durchführung aber verrieseln Dramatik und symbolische Kraft dieser Vorlage wie Sand im Getriebe einer überhitzten Erzählmaschine, die mit sich selbst zu viel zu tun hat.

Man fragt sich: warum? Was ist der literarische Mehrwert einer erzählerischen Methode, die scheinbar willkürlich Bausteine verschiedener Zeit- und Erzählebenen durcheinander würfelt, wenn die Erzählung dadurch nicht an zusätzlicher Tiefe gewinnt? Was hat man von der Einführung immer weiterer Metaebenen? Warum müssen wir auch noch den Erzähler kennen lernen, als welcher sich zum Schluss des Romans ein schemenhaft bleibender Federico Sanchez outet? Nun, es hat Federico Sanchez wirklich gegeben. Und es ist alles andere als ein Geheimnis, dass dies der Deckname von Semprún selbst war, als er noch eine Schlüsselrolle im kommunistischen Untergrund spielte. Auch andere Figuren des Romans sind wirkliche Personen, deren Wiedererkennung vermutlich für spanische Leser reizvoll ist.

Die Frage aber, wer sich wann mit wem worüber unterhalten und wer wem was wie weitererzählt hat, ist natürlich von hoher Relevanz für Mitglieder verbotener Organisationen, taugt jedoch als Konstruktionsprinzip für einen Roman nur bedingt. Das Drama der Familie Avendaño aber scheint vor allem dafür herzuhalten, diese klandestine Form der Informationsübermittlung, die dem Autor in der langen Zeit seiner Untergrundtätigkeit zur zweiten Natur geworden sein muss, in die Literatur zu übertragen. Die permanente Selbstreferenzialität dieser Erzählweise schiebt sich geradezu erstickend vor das zu Erzählende, von dem man schließlich gar nicht mehr weiß, worin es denn besteht. Zwar werden wir sehr ausführlich über das Sexualleben der Avendaños informiert. Aber ging es denn wirklich nur um die Frage, wer mit wem warum schlief?

KATHARINA GRANZIN

Jorge Semprún: „Zwanzig Jahre und ein Tag“. Aus dem Spanischen von Elke Wehr. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2005, 292 Seiten, 19,80 €