Ein erweiterter Politikbegriff

Wir reagieren auf Pläne und Programme anderer. Und wenn wir nicht erfolgreich sind, dann tricksen wir uns selbst aus. Dabei haben immer Einzelne angefangen, so entsteht Politik – auch in verrückten Zeiten wie diesen. Aber woher die Kraft nehmen?

Der Sinn von Politik ist nicht, um Pfründen zu feilschen oder Interessen durchzudrücken, sondern er ist Freiheit.In dieser Hinsicht findet gegenwärtig fast keine Politik statt

von ILONA PLATTNER

Es ist Zufall, dass das erste Sozialforum in Deutschland in eine von allen Seiten als historisch bezeichnete Phase fällt. Ob sie sich tatsächlich als historisch erweisen wird, sei dahingestellt. Von Bedeutung ist jedoch, dass die gegenwärtige Situation nicht vorhersehbar war. In beispielhafter Weise bekommen die Menschen in Deutschland vorgeführt, dass alle Pläne, alle Programme vor allem eines sind: Reaktionen auf Pläne und Programme anderer. Das Misstrauen gegenüber der Politik rührt zu einem erheblichen Teil aus diesem Phänomen.

Nun kennen wir aber alle die Kluft zwischen unseren Bekundungen und unserem Handeln. Erfolg bemisst sich ja an der größtmöglichen Übereinstimmung zwischen dem Ziel und dem tatsächlich Erreichten. Da aber nie ganz klar ist, wann die Kette der Handlungen zu Ende ist, also an welcher Stelle wir das Geschehen sinnvollerweise beurteilen können, retten wir uns in zwei alte Tricks. Wir behaupten, dass das, was passiert, genau das ist, was wir wollten, selbst wenn es das Gegenteil ist – oder wir machen die anderen, die nicht so wollten wie wir, für die Nichtübereinstimmung von Bekundung und Erreichtem verantwortlich.

Das eine ist so unbefriedigend wie das andere. Vielleicht wäre es ein Ausweg, Erfolg anders zu bemessen. An sich bedeutet der Begriff schlicht, dass etwas Folgen hat. Als etwa 1999 in Seattle die globalisierungskritische Bewegung die mediale Weltbühne betrat, war nicht abzusehen, dass die neuen sozialen Bewegungen eine derartige Bedeutung gewinnen würden.

Nach sechs Jahren Bewegung der Bewegung, fünf Weltsozialforen, zahlreichen anderen regionalen und lokalen Sozialforen und der größten Antikriegsdemo in der Geschichte der Menschheit kann mit Fug und Recht gesagt werden: Das Engagement der Zivilbevölkerung war an Folgen reich! Es sind Einzelne gewesen, die irgendwo, ohne auch nur im Traum daran zu denken, welche Folgen ihr Handeln haben könnte, angefangen haben, das Risiko des selbstbestimmten Handelns einzugehen. Risiko, weil nicht wirklich abzusehen ist, was passiert, wenn ein Anfang gesetzt wird und andere Menschen folgen.

Wir neigen dazu, das menschliche Miteinander, die Welt, die wir bewohnen, immer noch viel zu sehr in mechanistischen Metaphern zu erklären. Wir haben trotz System-, Chaos-, und Kommunikationstheorie nicht begriffen, dass Menschen unbekannte Größen sind und ständig irgendwelche unvorhergesehenen Dinge tun. Keine Billardkugel der Welt wird sich bewegen, wenn sie nicht angestoßen wird. Aber ein Brief, der nicht geschrieben wird, kann jede Menge Reaktionen hervorrufen. Und weil Menschen sprachbegabte Wesen sind, beginnt die Tat bereits in der öffentlichen Äußerung dessen, was zu tun beabsichtigt ist. Weil das so ist, beginnt Politik – das politische Tätigsein – viel früher, als wir das gemeinhin annehmen.

Politik beginnt dort, wo Menschen zusammenkommen, zu Wort kommen und von anderen gehört werden. Der Sinn von Politik ist nicht, um Pfründen zu feilschen oder Interessen durchzudrücken, sondern der Sinn von Politik ist Freiheit. Die Freiheit, sich zu treffen, die eigene Meinung frei zu äußern, in Freiheit zuzuhören und die Möglichkeit zu haben, damit was auch immer zu tun. In dieser Hinsicht findet zurzeit fast keine Politik statt.

Die BerufspolitikerInnen sind im Grunde HaushälterInnen, die den Notwendigkeiten gehorchen und unter der Knute der Interessenkonflikte jegliche Freiheit verlieren. Aus diesem Grund sind von ihnen keine wirklich anderen Handlungsmöglichkeiten zu erwarten. Das heißt nicht, dass alle Menschen, die von Berufs wegen Politik betreiben, böse sind – sie sind nur ungeeignet, Neues, Unwahrscheinliches zu schaffen. Dies kann nun bedauert werden, es kann aber auch als Chance begriffen werden, selbst tätig zu werden.

Wie aber werden wir nun, im oben genannten Sinne, politisch tätig? Woher holen wir die Kraft und den Mut, öffentliche Räume zu organisieren mit der Absicht, keine Absicht zu haben, außer der, zu sprechen und zuzuhören? Vielleicht können wir lernen von denen, die das Neue schon immer in den Mittelpunkt ihres Schaffens stellten. In der Vergangenheit ist es eine kleine Gruppe von Menschen gewesen, die so genannte Avantgarde, die etwa forderte, Trennlinien zwischen Alltag und Kunst aufzuheben. Heute besteht die Möglichkeit für viel mehr Menschen, jenseits ihrer Daseinsvorsorge, sich mit anderen zu treffen und Unvorhergesehenes zu kreieren.

Wenn wir die Welt als etwas von uns allen Geschaffenes betrachten, können wir die Verantwortung nicht einfach abgeben. Sie ist unser aller Werk. Und wenn wir denn in außergewöhnlichen Zeiten leben, fordert dies außergewöhnliche Handlungen, verrückte sogar. Oder ist es etwa nicht verrückt, dass Tausende von Menschen zusammenkommen, ohne ein bestimmtes Ziel zu haben, ohne zwingend ein Programm verabschieden zu müssen?

Es ist ein Zufall, aber ein schöner, dass das Sozialforum in Deutschland so unverhofft in diese Zeiten fällt.

Ilona Plattner ist Künstlerin und Mitglied im attac-Rat