Ich und niemand

Wie man sich konsequent und irreversibel zum Verschwinden bringt: Der Schweizer Schriftsteller Kurt Aebli übt sich mit „Der ins Herz getroffene Punkt“ in der Kunst der Selbstauflösung

VON MICHAEL BRAUN

Eine so konsequent weltverneinende Figur ist wohl noch nie erfunden worden. Wellenberg, ein ins Scheitern verliebter Schriftsteller, starrt immerfort in die eigenen Abgründe. Er ist der grüblerische Antiheld in Kurt Aeblis neuem Prosabuch, ein radikaler Zweifler, der in seinem skeptizistischen Furor den Endspielen Samuel Becketts entlaufen sein könnte. In der denkerischen Auflösung aller Substanzen ist dieser Virtuose der Negation schon weit fortgeschritten. Jedweder positive metaphysische Sinn ist ihm abhanden gekommen. Vom endgültigen Schweigen ist er nur einen Fußbreit und einige trostlose Sätze weit entfernt.

Das einzige Projekt Wellenbergs scheint es zu sein, sich konsequent und irreversibel zum Verschwinden zu bringen. Mit seiner stärksten Waffe, dem universalisierten Zweifel, pulverisiert er in einer Art schwarzem Existenzialismus nicht nur alle Denksysteme, sondern auch alle Lebensregungen des eigenen Ich. Nichts hat mehr Bestand vor seinen Augen, am allerwenigsten die Existenzbehauptung eines autonomen Ich.

Wäre da nicht die Sprache, an deren Suggestionskräften sich Wellenberg trotz des an ihm nagenden Gefühls des „Überflüssigseins“ abarbeitet. An den Ordnungen dieser Sprache, an ihren Unschärfen und Stereotypen entzünden sich auch immer wieder die Selbsterkundungslektionen des Kurt Aebli. Den negationswütigen Wellenberg darf man dabei durchaus als ein literarisches Double des Autors identifizieren. „Meine Texte“, so notiert Wellenberg, „bestehen einzig aus Blößen, teils notdürftig verdeckt, überwiegend jedoch offen gezeigt.“

Selbst im Konstatieren der Schwäche liegt aber eine positive Poetik verborgen – nämlich der Versuch, die kunstvolle Selbstentzauberung weiter auszudifferenzieren. Und so reiht der Schweizer Autor, der sich seit seinen ersten Veröffentlichungen im Jahr 1983 der radikalen Selbsterkundung gewidmet hat, auch in den Denkbildern seines neuen Buchs unentwegt seine Sätze der sorgsamen Ich-Dekonstruktion aneinander. Wenn sein Ich schon auf der zweiten Seite „am äußersten Rand“ der „Trostlosigkeit“ angekommen ist, ist das nur der Auftakt zu einer systematischen Auflösung aller Fixpunkte einer scheinhaften Identität. Aebli geht in seinem Negations-Ingrimm sogar so weit, dass er an einer Stelle die Bekundungen seiner existenziellen Verlorenheit im gedruckten Text mit einer Durchstreichung markiert.

Der Zustand der Leere, Schwermut und Erschöpfung, der hier stoisch festgehalten wird, erweist sich indes nicht als Abgesang eines gescheiterten Schriftstellers. Denn der Erzähler schlägt unentwegt aus der eigenen „Unverwendbarkeit“ ästhetische Funken. Der angeblich „Überflüssige“ zögert nicht, schreibend „den Tatbeweis seiner Unbrauchbarkeit“ zu erbringen.

Auch wenn Aeblis Held immer mehr von Selbst- und Weltekel verzehrt wird, findet er doch neue Anlässe der stilistisch glanzvollen Umkreisung seines Horror Vacui. Die Selbstgeißelung des Ich schreitet zwar munter fort, bis hin zu peinigenden Sätzen, die der Erzähler im Radio aufschnappt und mit denen er sich die Legitimation zu entziehen vorgibt: „Ich bin kein Schriftsteller, ich bin ein Pfuscher.“ Solche Sätze werden indes in listiger Paradoxie zum Ansporn für das Ich, sich vor dem drohenden Verstummen zu retten: „Auf einmal fielen ihm lauter Sätze ein, die mit ‚Ich habe ja noch‘ anfingen.“ So darf auch der Leser am Ende aufatmen: Wir haben sie ja noch – die kunstvollen Paradoxien des Kurt Aebli.

Kurt Aebli: „Der ins Herz getroffene Punkt“. Urs Engeler Editor, Basel/Weil am Rhein/Wien 2005, 152 Seiten, 17 Euro