Geruch der Kindheit

Er war ein Vertreter des Nouveau Roman und der Erinnerung in der Literatur: zum Tod von Claude Simon

Der französische Schriftsteller Claude Simon ist tot. Mit seinen Romanen „Die Straße in Flandern“, „Der Wind“ und „Die Akazie“ zählt Simon zu den wichtigsten Gegenwartsautoren Frankreichs. Die Schwedische Akademie, die im 1985 den Nobelpreis verlieh, würdigte ihn als einen Künstler, der „in seinen Romanen das Schaffen eines Dichters und Malers mit vertieftem Zeitbewußtsein vereint in der Schilderung menschlicher Grundbedingungen“.

Geboren wurde Claude Simon am 10. Oktober 1913 in Tananarive auf Madagaskar. Sein Vater, ein französischer Berufsoffizier, starb schon bald nach seiner Geburt. Im Alter von elf Jahren verlor er auch die Mutter. Als Vollwaise kam er zu seinen Verwandten ins südfranzösische Perpignan. 1936 kämpfte Simon auf Seiten der republikanischen Truppen im Spanischen Bürgerkrieg. Als Soldat geriet er während des Zweiten Weltkriegs in Gefangenschaft, doch es gelang ihm zu fliehen und unterzutauchen.

Hatte er sich als junger Mann ursprünglich zur Malerei und zum Kubismus hingezogen gefühlt, so begann er nach Ende des Krieges zu schreiben. In seinem stark autobiografisch geprägten Werk verarbeitete Simon, zu dessen Lieblingsschriftstellern Marcel Proust zählte, seine leidvollen Kriegserfahrungen und die traumatische Erfahrung der persönlichen und kollektiven Geschichte. Bereits in seinen frühen Büchern vollzog der Autor, der neben Alain Robbe-Grillet und Nathalie Serraute zu den bedeutendsten Vertretern der von Roland Barthes so genannten Strömung des Nouveau Roman gehörte, einen radikalen Bruch mit der althergebrachten Erzähltradition und jeder Form von naivem Realismus. Ihre widerspenstige Form macht dem Leser bis heute zu schaffen.

Statt eines objektiven, allwissenden Erzähler schildert er die Wirklichkeit aus der Perspektive des Einzelnen, in Bruchstücken und Ausschnitten, als „sich überstürzende Folge von verworrenen, bunten, disharmonierenden Bildern“, wie er selbst einmal seinen Stil kennzeichnete. Seine Romane, in denen er ausdrücklich nicht „etwas erklären, sondern zeigen“ wollte, verzichten oft auf jede chronologische Reihenfolge, traditionelle Handlungsabläufe oder gar psychologische Erklärungen. Stattdessen experimentieren sie mit Montagetechniken und innerem Monolog, verweben auf kunstvolle Weise innen und außen, Erinnerungen und Assoziationen, Wirklichkeitsfetzen und Visionen.

Sein wohl berühmtester Roman „Histoire“, der 1967 erschien und für den er den französischen Avantgarde-Preis „Medicis“ erhielt, schildert ähnlich wie James Joyces „Ulysses“ einen einzigen Tag im Leben eines namenlosen Ich-Erzählers. Als ein Meisterwerk der Antikriegsliteratur gilt bis heute sein 1989 veröffentlichtes Buch „Die Akazie“, in der der Erzähler eine Reise mit Mutter und Tante durch das kriegszerstörte Frankreich des Jahres 1918 auf der Suche nach dem Grab des Vaters beschreibt. Sein jüngster Roman „Die Trambahn“, der 2002 in deutscher Übersetzung erschien und als bewusste Hommage an Marcel Prousts „Suche nach der verlorenen Zeit“ gelesen werden kann, verknüpft einen Klinikaufenthalt des Erzählers mit der Erinnerung an die Straßenbahn der 20er-Jahre in Perpignan. Auf kunstvolle Weise und in gestochen scharfen Aufnahmen gerät eine einfache Straßenbahnfahrt zu einer Reise der Imagination, in der längst verschüttete Empfindungen, Bilder und Gerüche der Kindheit in Perpignan wieder zum Leben erweckt werden.

Bis zuletzt lebte Claude Simon abwechselnd in seinem geliebten Südfrankreich und in Paris, wo er, wie sein Verlag am Samstag mitteilte, bereits vergangenen Mittwoch im Alter von 91 Jahren gestorben ist. Der französische Premierminister Dominique de Villepin gab der Trauer der Literaturwelt Ausdruck: „Die französische Literatur hat einen ihrer größten Autoren verloren.“

MARION LÜHE