Spanische Dramen

Botschafter des Flamenco: Das Ballet Teatro Español de Rafael Aguilar reist wieder durch Deutschland. Aufregend und überraschend in ihrer dialogischen Form wirken ihre Stücke gerade dort, wo sie der Tradition am nächsten sind

Sie sind fast das ganze Jahr über unterwegs. Letztes Jahr haben sie Australien und Neuseeland bereist, dieses Jahr touren sie durch acht deutsche Städte, fünfzehn Auftritte in Berlin (bis 24. Juli), sechs in Essen, zwölf in Köln (im August). Das Ballet Teatro Español de Rafael Aguilar hat den tanztheatralischen Flamenco schon erfolgreich durch ganz Europa, nach Russland und nach Japan gebracht. Die Tänzer sind dabei oft jünger als die Stücke ihres Repertoires. Doch sie pflegen das Tanztheater, das Aguilar seit den Sechzigerjahren mit den Mitteln des Flamenco und des modernen Balletts entwickelte, als ob ein Abweichen von der Handschrift des vor zehn Jahren verstorbenen Meisters einem Sakrileg gleich käme.

Das ist ebenso berührend wie skurril. Berührend schon deshalb, weil es in der Welt des neueren Tanztheaters eine solche Werkpflege nur selten gibt und die Stücke, anders als beim historischen Ballett, ihre Schöpfer fast nie überleben. Schon aus ökonomischen Gründen, weil die Compagnien so lange nicht existieren, haben Tanztheaterstücke eine kurze Lebensdauer. Skurril aber ist es, weil das Ballet Teatro Español noch immer damit wirbt, ein Erneuerer zu sein, der zwei bis dahin getrennte Tanzkulturen zusammenbrachte – und kein Verhältnis dazu findet, eher musealer Bewahrer der Ursprünge eines Dialoges zu sein, der sich inzwischen weiterentwickelt hat. Die Vielzahl der Auftritte, die die Aguilar-Compagnie finanziell existieren lässt, lässt ihnen kaum Spielraum, neue Stücke zu entwickeln.

Dennoch vermögen sie zu begeistern und staunen zu lassen über das Ausdrucksspektrum, das im Flamenco und seinen Elementen Tanz, Gesang, Gitarrenspiel und In-die-Hände-Klatschen liegt. Aguilar hat sowohl nach den Quellen des Flamenco und deren Verästelungen in arabischen, jüdischen und hinduistischen Wurzeln geforscht als auch an einer Veredelung der Form und Verschmelzung mit den Lyrismen und dem expressiven Vokabular des Balletts gearbeitet. Doch während seine Stücke da, wo er die neue Form suchte, von einem konservativen Kunstideal gefesselt scheinen, wirkt das Freilegen der Tradition erstaunlich modern. Drei Stücke umfasst ihr Programm in der Berliner Staatsoper. „El Rango“, 1964 uraufgeführt, folgt der düsteren Spur von García Lorcas Drama „Bernarda Albas Haus“: Eine despotische Mutter unterdrückt jedes Freiheitsbegehren ihrer Töchter. Die Autorität der Mutter, ihre Befehlsgewalt über die Töchter, drückt sich ebenso in dem harten Trommeln und Stampfen ihrer hohen Absätze auf dem Bühnenboden aus wie die Unruhe und der Lebenshunger der Tochter. Die Körper unter den langen schwarzen Röcken scheinen fast unberührbar. Die Körpersprache des Flamenco erhält in diesem Konflikt etwas von einer zähen und verborgenen gehaltenen Kraft, einem unterdrückten Vulkan. Die Mutter wandelt seine Energie in ein Instrument des Zwangs, die Töchter entdecken in ihr das Potenzial der Provokation und Selbstbehauptung.

Der „Bolero“, der 1987 nach der Musik von Maurice Ravel entstand, ist dagegen eine schillernde, glänzende Flamenco-Revue, die ganz auf die Schönheit der geometrisch stilisierten Formen und ihre virtuose, athletische Steigerung setzt. Aber erst das letzte Stück, die „Suite Flamenca“, eine Folge von traditionellen Tänzen, vermittelt, wie aufregend Flamenco sein kann. Es ist die dialogische Struktur, die ständige Herausforderung zwischen den Sängern, Gitarrenspielern und Tänzern, die jeden Moment für das Gefühl sorgt, keiner Rekonstruktion beizuwohnen, sondern einer aus dem Hier und Jetzt gezeugten Spannung. Der Flamenco entwickelt dabei eine Präsenz, der man sich nicht entziehen, eine Rhetorik, der man nicht widersprechen kann. Autorität, Raffinesse, Temperament und ein ironisches Kokettieren mit der eigenen Macht verbünden sich in einem Flirt mit dem Publikum.

In den Solos der Frauen steigert sich das bis zur Artikulation von Angriffslust, einer auch erotisch aufgeladenen Aggressivität, einer fordernden und bedrohlichen Ausstrahlung. Der Flamenco transportiert auch eine Geschichte von weiblichem Selbstbewusstsein, die unberührt von allen Geschlechterdiskussionen blieb. Im langen Solo eines Tänzers dagegen wird die Haltung, die den ganzen Rest der Welt wegblendet, mit Understatement gebrochen. Je länger die Suite dauert, desto mehr lernt man sehen, wie jeder Tänzer in dem erst so reduziert wirkenden Bewegungsmaterial zu seinem eigenen Ausdruck findet und sich im Verhältnis zu den anderen immer wieder neu definiert. Und das erscheint dann kein bisschen mehr rückwärts gewandt.

KATRIN BETTINA MÜLLER