Sehnsucht nach Sicherheit

Kleinselbstständige, Akademiker und Facharbeiter – die deutsche Mittelschicht plagt die Angst vor dem Abstieg. Darum ist alles, was bürgerlich riecht, im Aufwind – auch die CDU

Wertediskussionen bestätigen das Bürgerliche und sind Trostprogramm für die Mittelschicht

In den stärksten Zeiten der New Economy kursierten in amerikanischen Firmen Witze über die Mitarbeiter in den deutschen Niederlassungen und deren Sehnsucht nach hochtrabend und kosmopolitisch klingenden Titeln. Die Deutschen, so hieß es, seien glücklich, wenn irgendwas mit „director“, „chairman“ oder gar „vice president“ im Titel auf ihrer Visitenkarte auftauchte, und gäben sich dann mit vergleichsweise wenig Gehalt in ihrer Position zufrieden. Begeistert verliehen die Amerikaner lange Titel und freuten sich über die materielle Anspruchslosigkeit ihrer deutschen Kollegen.

Der Glaube an hochtrabende Titel dürfte inzwischen der Ernüchterung gewichen sein. Wenig ist in den letzten Jahren so stark ins Wanken geraten wie die Statussymbole der deutschen Mittelschichtmilieus. AkademikerInnen und FacharbeiterInnen haben die innere Sicherheit verloren, sich garantiert und auf Lebenszeit von den sozial schwachen Bevölkerungsgruppen, den wenig Gebildeten, den Chancenarmen, den dauerhaft auf Stütze Angewiesenen, zu unterscheiden. Auch diese gefühlte Unsicherheit ist es, die jetzt die CDU als bürgerlich-konservative Partei für viele Mittelschichtwähler wieder attraktiv aussehen lässt.

Um diese Befindlichkeit zu verstehen, muss man den Kränkungen nachspüren, denen Angehörige der gehobenen und unteren Mittelschichten in den vergangenen Jahren ausgesetzt waren. Die Liberalisierung der Wirtschaft und die Sozialreformen entpuppen sich bei näherem Hinsehen nämlich als wahrhaftes Panikprogramm für Facharbeiter, kleine Angestellte und AkademikerInnen, die sicher sein wollten, sich immer „nach unten“ abgrenzen zu können.

Das bekannteste Beispiel dafür ist die Hartz-IV-Reform. Die wirklich Armen verloren durch Hartz IV nichts, weil sie vorher auch nichts hatten. Doch für die unteren und gehobenen Mittelschichten wurden die Sozialreformen zum Synonym für den Verlust alter Sicherheiten – das Arbeitslosengeld II ist im Unterschied zur Arbeitslosenhilfe für alle gleich. Und Facharbeiter, die jenseits der 55 entlassen werden, können sich nach den neuen Regelungen zur Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes nun nicht mehr als verdiente Vorruheständler, sondern nur noch als chancenlose Sozialfälle begreifen. Die Angst, solcherart mit den Unterschichten zu verschmelzen, bedroht das Selbstwertgefühl – wobei dies, nebenbei gesagt, immer auch eine Geringschätzung der sozial Schwächsten bedeutet.

Unter 1-Euro-Jobbern sind das Schwinden der Distinktionen und die Spannungen, die dadurch entstehen, gut zu beobachten: dann nämlich, wenn beispielsweise die studierte Kunsthistorikerin neben dem ehemaligen Maurer in einer Holzwerkstatt Möbel aufbereiten soll. Alle Beschäftigungsmaßnahmen, die etwas mit Computern oder geistiger Arbeit zu tun haben, egal wie stumpfsinnig, sind bei langzeitarbeitslosen Akademikern beliebter, um noch einen Rest der Distinktion des „Geistesarbeiters“ gegenüber den „Handarbeitern“ zu bewahren.

Nicht nur Hartz IV, auch die neue Arbeitswelt mit dem Rollenmodell des „Ich-AGlers“ macht Angst. Wenn als Ausweg aus der Arbeitslosigkeit nur noch die Selbstständigkeit bleibt, als PR-Texter oder Sandwichverkäufer, bedeutet dies den Zwang zur ständigen Selbstvermarktung. Das Werben um Kunden, um Auftraggeber ist knallharte „Emotionsarbeit“ – nicht nur freundlich, sondern mitunter sogar aufdringlich zu sein, Abweisungen einzustecken, Demütigungen hinzunehmen. Das „Bedienen“ wird von manchen Männern obendrein als „weibliche“ Emotionsarbeit angesehen und deswegen gering geschätzt.

Sich tagtäglich neu anbieten zu müssen, das ist eine Mühsal, die in der früheren Industriegesellschaft die Gelegenheitsarbeiter und Tagelöhner, also das Subproletariat, auf sich nehmen mussten. Vielleicht erleben viele Leute den Zwang zur täglichen Selbstvermarktung, dem Kleinselbstständige unterliegen, auch deshalb als Abstieg.

Die Globalisierung stellt weitere Distinktionsmerkmale in Frage. Früher profitierte die deutsche Mittelschicht von den Auslagerungen der Industrieproduktion in ärmere Länder. Dabei handelte es sich um einfache Handarbeit, keine Konkurrenz also für die Gebildeten, die sich dann als Konsumenten über die billigen importierten Waren freuten. Wenn aber heute etwa in Indien neue Mittelschichten entstehen, die mindestens ebenso gut wie wir Software programmieren und warten können, ist das eine starke Konkurrenz und auch ein Angriff auf die vermeintliche intellektuelle Überlegenheit, in der sich die Gebildeten hierzulande wähnten. Durch die Globalisierung des „Geistesmarktes“ sei die Welt nicht mehr rund, sondern flach geworden, schreibt der US-amerikanische Essayist Thomas L. Friedman in seinem Bestseller „The World Is Flat“. Die neuen Mittelschichten in den Entwicklungsländern machen uns auch deswegen Angst, weil sie die Aufstiegsfreude ausstrahlen, die wir nicht mehr verkörpern können.

In den USA sind die Distinktionen übersichtlich: Sie sind in Dollars messbar, genauer gesagt in den Privatvermögen. Nicht Titel beruhigen dort, sondern die Frage, ob man genug „fuck-you money“ auf dem Konto hat, also ein Vermögen, das einem erlaubt, einen verhassten Arbeits- oder Auftraggeber auf Wunsch auch mal zum Teufel zu schicken oder joblose Zeiten zu überbrücken.

Es geht um Geld, wenn man von sozialen Schichten redet. Doch die großen Parteien berühren Verteilungsfragen nur am Rande. Die Sozialdemokraten befürworten neuerdings eine „Reichensteuer“, die aber die Mittelschicht garantiert unangetastet lässt. Die CDU will bei den Pendlern und Nachtarbeitern kürzen, um damit Steuernachlässe für Gering-, aber auch für Spitzenverdiener zu finanzieren. Sie will die Mehrwertsteuer erhöhen, um im Gegenzug die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung zu senken. All dies nützt den Arbeitslosen nichts – und es wird nichts daran ändern, dass Angestellte, FacharbeiterInnen und AkademikerInnen ihre alten Sicherheiten nicht mehr wiederbekommen.

Die Sozialreformen entpuppen sich als wahresPanikprogramm für die Mittelschicht

Wenn jedoch innere Sicherheiten schwinden, dann besinnt man sich umso mehr auf die Vergangenheit, auf frühere Zeiten, in denen angeblich noch stabile Werte galten und die Unterscheidungsmerkmale gegenüber „denen da unten“ unverwüstbar waren. Genau deshalb hat jede Partei, die nach Bürgerlichkeit, nach Konservativismus riecht, heute so gute Chancen.

Kein Wunder also, dass CDU-Kanzlerkandidatin Angela Merkel gerne von „Werten“ redet, denen sich die Politik wieder zuwenden müsse. Sich um Werte zu kümmern, das war immer das Privileg derer, die sich gebildeter, moralischer wähnten als die Unterschichten. Jede Wertediskussion, und sei es nur die Betonung der Arbeitsmoral, der Familie, bestätigt das Bürgerliche. Sie ist ein Trostprogramm für die Mittelschichten. Die globalen und nationalen wirtschaftlichen Entwicklungen lassen sich aber dadurch nicht aufhalten.

BARBARA DRIBBUSCH