Das Leiden der anderen

Wo Inszenierung und Leben sich überschneiden, da arbeiten sowohl die britische Theatergruppe Forced Entertainment wie die französische Künstlerin Sophie Calle. Deren Installation „Exquisite Pain“ wurde jetzt in Stuttgart zur Vorlage für die Erforschung von Glück und Unglück der Liebe auf der Bühne

VON DOROTHEA MARCUS

Obwohl sie ständig von Liebeskummer gepeinigt scheint, muss man sich Sophie Calle als glücklichen Menschen vorstellen. Kaum eine verwandelt so lustvoll Kummer in Kunst, inszeniert so offensiv private Dramen. Die französische Fotografin und Aktionskünstlerin macht ihr Leben wahlweise zum Krimi oder Roadmovie, zum Bilderbuch oder zur Reise ins Innere. Bekannt wurde sie, indem sie sich von einem Detektiv beschatten ließ, den sie gleichzeitig selbst beobachtete. Calle war auch Zimmermädchen und Stadtstreicherin, lebte nach von Paul Auster inspirierter Farbdiät und schickte ihr Bett liebeskummerkranken Studenten.

Dabei legt sie in ihr vermeintlich dokumentarisches Werk leitmotivische Zeichen, die beneidenswerten und bizarren Zusammenhang stiften: einzelne Schuhe, verbrannte Betten, blonde Perücken tauchen immer wieder auf. Nie weiß man, wie authentisch die Spuren sind, wo Leben endet und Kunst beginnt. War Sophie Calle wirklich Striptänzerin? Hat sie das Hochzeitskleid getragen, als sie die erste Nacht mit dem Mann verbrachte, der ihr das größte Unglück bescherte? Calle verunheimlicht Alltägliches, dramatisiert Lebenslangeweile, gewinnt noch der miesesten Liebesgeschichte romaneske Versüßung ab.

Da kaum etwas theatralischer ist als die Kunst von Sophie Calle, war es nur eine Frage der Zeit, bis ihr Werk von der britischen Theatergruppe Forced Entertainment entdeckt werden würde, die sich ja auch mit dem Umschlag von Wahrheit in Fiktion beschäftigt. In ihrer berühmtesten Arbeit „Quizoola“ sitzen sich Schauspieler gegenüber, die sich über zehn Stunden lang existenzielle und banale Fragen stellen. Die Antworten sind inszeniert und echt zugleich. Was ist intim, was bewusst öffentlich, was wirklich gedacht und was ironische Distanz? Das kalkulierte Überraschungsmoment verschwimmt mit dem tatsächlichen.

Für ihre neueste Uraufführung, die zum Abschluss von „Theater der Welt“ in Stuttgart stattfand, hat Regisseur Tim Etchells Sophie Calles Installation „Exquisite Pain“ benutzt. Sie besteht aus zwei Teilen: Glück und Unglück, die, wie man weiß, so plötzlich ineinander umschlagen können. In „92 Days to Unhappiness“ fotografiert Calle eine dreimonatige Japan-Reise, und die abnehmendem Tage des Glücks basieren auf der Sehnsucht nach ihrem Geliebten. Er verlässt sie per Telefon, als sie im verabredeten Hotelzimmer 261 in Neu-Delhi eingetroffen ist. Das Zimmer, in dem Sophie Calle die „unglücklichste Nacht ihres Lebens“ vor einem roten Telefon verbringt, war in der Installation, die man vor einem Jahr in der großen Calle-Werkschau in Berlin sehen konnte, lebensecht aufgebaut. In repetitiver Selbsttherapie erzählten Schautafeln die Zeit „After Unhappiness“ Tag für Tag neu. Nach 100 Tagen ist sie ganz kurz geworden, fertig verarbeitet, die Trauer ist fern und nah genug, zum Kunstwerk zu werden.

Neben der eigenen Schmerzaustreibung gehören Geschichten von Menschen, die Calle aufforderte, den „leidvollsten Moment“ ihres Lebens zu erzählen, zum Material ihrer Installation und der Vorlage des Stücks: Denn nichts hilft beim eigenen Leid so sehr wie das der anderen. Textmassen also, die man in einer Ausstellung lesend kaum bewältigen konnte, versprachen sich umso besser für einen Theaterabend zu eignen. Richard Lowdon und Claire Marshall, die aussieht wie die junge Sophie, sitzen an nüchternen Tischen, Wasserflaschen und Manuskripte vor sich. Sie liest Calles Geschichten, er die anderen, dazu erscheinen in den Fernsehern dahinter Fotos: Bei ihr das Hotelzimmer als heiliger Schmerzensstempel. Bei ihm das Waschbecken, auf dem ein Abschiedsbrief lag, oder das Hellgrün des Nachthemds, in dem eine Mutter starb: Trauerfetische, die das jeweilige Leid aufgesogen haben.

Es ist das erste Mal, dass Forced Entertainment einen Fremdtext inszenieren, aber sie verweigern sich dem Theater radikal: Es ist nicht einmal eine szenische, sondern nur eine schlichte Lesung geworden. Claire Marshall entschuldigt sich für Versprecher, blickt aufmerksam auf den lesenden Kollegen. Natürlich, das ist die Zeitstruktur des Theaters, ist man dem Text aufmerksamer ausgeliefert. Besser merkt man, wie komisch und melancholisch die ständige Wiederholung ist, wie sich täglich die Perspektive auf Leid ändert, dass es auch im Schmerz keine Wahrheit gibt.

Doch so einfühlsam, witzig und frisch das vorgetragen ist, es nimmt dem Werk von Calle eine Dimension. Im Museum war die Installation ein mehrdimensionales Zettelkastenarchiv, das durch vielleicht gefälschte Textschnipsel, Fotos und Reisesouvenirs im Kopf einen Film anstellte, der den Zuschauer zum Detektiv auf den Spuren von Dichtung und Wahrheit machte. Auf der Bühne geht das Schillern verloren: Es ist eine bald ermüdende Lesung vom Unglück anderer Menschen, das uns, obwohl wir direkt dabeisitzen, schon nichts mehr angeht.