In der Logik des Krieges

Der Terror in Großbritannien kommt aus der Mitte der Gesellschaft – und entsteht entlang der ethnischen, religiösen und sozialen Bruchlinien innerhalb dieser Gesellschaft

Die Einheit des multikulturellen Großbritannien zu beschwören hat einen hohlen Beigeschmack

Auf den ersten Blick passt alles zusammen. Drei der Selbstmordattentäter von London waren junge Briten aus der nordenglischen Industriestadt Leeds, muslimischen Glaubens, pakistanischer Abstammung, Söhne braver bürgerlicher Familien. Genau dieses Profil hatten die Ermittler ihrer Arbeit zugrunde gelegt. Denn genau solche Leute gelten als anfällig für radikale Islamisten, die ihnen den Weg in eine unbekannte, spannendere Parallelwelt weisen, in der sie plötzlich etwas Sinnvolles tun können.

Gelangweilte Jungs in langweiligen Reihenhaussiedlungen mit anstrengenden Familien brauchen nicht viel Anstoß von außen, um sich geistig und dann irgendwann auch real in eine solche Parallelwelt zu begeben. Es besteht da kein großer Unterschied zu anderen Tagträumern, denen es materiell eigentlich gut geht, die aber alles öde finden und die sich in endlose Rollenspiele am Computer verstricken, den Drogentrip suchen oder die imaginäre Karriere als Fußballstar oder als Musiker, um ein neues, aufregenderes Leben zu finden. Auch der Erfolg vieler Fantasy- und Sciencefiction-Geschichten in Büchern und Fernsehen hängt mit dieser Suche nach der Parallelwelt zusammen, die einem eigentlich vor der Nase liegt, wenn man den Weg nur kennt. In den Harry-Potter-Romanen führt dieser Weg über den gleichen Londoner Bahnhof King’s Cross, von dem aus die Attentäter vom 7. Juli ausschwärmten, um ihre unterirdische Sternstunde zu erleben.

Allein handelten die Attentäter nicht; den Militärsprengstoff muss ihnen jemand zumindest besorgt haben, wenn nicht gar die ganze Idee und Ausführung von erfahrenen Zirkeln beraten wurde. Es handelt sich dabei weniger um Hassprediger in Moscheen, denn diese richten sich an bereits Überzeugte; eher um coole Wortführer, die verschwörerisch „unterdrückte Nachrichten“ aus Irak und Kaschmir verkünden, aus Tschetschenien und Palästina, und die dann sagen: Wollt ihr etwas tun gegen die Ungerechtigkeit auf der Welt? Ihr könnt – indem ihr euch opfert, für das größere Gute.

Dies ist eigentlich ein urbritischer Instinkt, vergleichbar mit dem vertraulichen Anwerben von Geheimdienstagenten, wo dem Anwärter ja auch irgendwann bedeutet wird, er bekomme jetzt Zugang zu einer verschwörerischen, besseren Elite, die sich für Krone und Vaterland, „Queen and Country“, aufopfere und zugleich dem Rest der Gesellschaft überlegen sei. Die britische Ermittlersprache von „Masterminds“, die hinter den Attentätern steckten und die man jetzt suchen müsse, kommt direkt aus den James-Bond-Filmen und John-Le-Carré-Romanen, mit denen sich Generationen von Engländern ein – zugegebenermaßen überzeichnetes – Bild dieser ganz besonderen Parallelwelt zurechtgelegt haben. Es fehlt nicht viel, um in den Londoner Terrorermittlungen eine reale Inszenierung eines James-Bond-Szenarios zu sehen, wo sich zwei sehr ähnliche Eliten jagen, von denen die eine die Zivilisation zerstören will und die andere gewinnt. Die kulturelle Unterfütterung des „Kriegs gegen den Terror“ beruht darauf.

Dies bestätigte auch gestern Premierminister Tony Blair, als er vor dem Parlament „eine kleine Gruppe von Extremisten“ beschwor, deren „böse Ideologie“ man „an der Wurzel ausrotten“ müsse. Diese Sprache taugt als polizeiliche Reaktion – also für die Jagd auf die „Masterminds“. Aber sie taugt nicht für die Suche nach den Wurzeln des Terrors. Sie verstellt den Blick auf eine Realität: Der Terror kommt aus der Mitte der Gesellschaft.

Dies zu sagen bedeutet nicht, die Gesellschaft für den Terror verantwortlich zu machen. Bei den Parallelwelten der Vorstadtjugendlichen geht es nicht um Randgruppen, um Integrationsprobleme, um Benachteiligung von Muslimen, um eine Kluft zwischen Arm und Reich – obwohl all dies zur britischen Realität gehören. Solche Kategorien sind geeignet für statische Gesellschaften, in denen die soziale Verortung des Individuums als unabänderliches Schicksal erscheint und daher gesellschaftliche und ökonomische Machtverhältnisse als erdrückend empfunden werden können.

Gerade Leeds hat sich in den letzten 20 Jahren, seit dem Zusammenbruch der traditionellen Industrien, so gründlich gewandelt und erneuert wie kaum eine andere englische Stadt. Das beinhaltet unzählige Aufstiegsstorys und unzählige Abstiegserfahrungen, aber kaum entlang verallgemeinerbarer Muster – auch nicht entlang ethnischer oder religiöser Linien. Zentral ist die individuelle Verarbeitung gesellschaftlichen Wandels, und die ist meistens vielschichtiger und widersprüchlicher, als Politiker denken und Soziologen voraussetzen.

Seit Jahren warnen die britischen Geheimdienste vor einer wachsenden Entfremdung muslimischer Jugendlicher. Seit Jahren warnen zugleich die britischen Sozialpolitiker vor einer wachsenden Gewaltneigung auch ganz normaler englischer Jugendlicher. Ersteres wird gerne pauschal auf ideologische Fremdsteuerung zurückgeführt, letzteres pauschal auf familiäre Probleme. Wenn es um die Erforschung konkreter Gewaltakte geht, hilft die Suche nach kollektiven Ursachen nicht.

Das heißt andererseits nicht, dass es keine relevanten gesellschaftlichen Probleme gäbe. Neben individuellen Parallelwelten kennt England auch kollektive Parallelgesellschaften. Vor vier Jahren, im Sommer 2001, erlebten zahlreiche nordenglische Industriestädte massive Gewalt zwischen weißen und asiatischstämmigen Jugendlichen – teils geschürt von Rechtsradikalen. Untersuchungskommissionen stellten hinterher für Leeds’ Nachbarstadt Bradford eine „zunehmende Spaltung seiner Bevölkerung entlang rassischer, ethnischer, religiöser und sozialer Linien“ fest – bei Asiaten und bei Weißen. Sie sprachen von „Selbstsegregation“ aus Selbstschutz, bei der sich die Mitglieder unterschiedlicher Gemeinschaften in „comfort zones“ zurückziehen, wo sie nur noch mit ihresgleichen zu tun haben.

Dies zu sagen bedeutet nicht, die Gesellschaft für den Terror verantwortlich zu machen

Dieser Befund hat zwar mit der individuellen Motivation von Terror nichts zu tun. Aber er bietet dafür einen wichtigen Kontext. Wenn andere Leute, selbst Nachbarn, als fern und als „anders“ erscheinen – egal ob man sie hasst oder bewundert –, bieten sie sich als pauschale Gegner an. Und wenn die Gemeinschaft, in die man hineinwächst, die Gesellschaft als Gesamtheit nur noch bedingt zur Kenntnis nimmt, wird diese zur Abstraktion, an der man gefahrlos seine Stärke ausprobieren kann.

Gerade deswegen hat die Betonung der nationalen Einheit des multikulturellen Großbritannien, die seit den Londoner Anschlägen den politischen Diskurs prägt, einen hohlen Beigeschmack. Und das stellt die britische Politik vor ein schier auswegloses Dilemma. Nie schien die kompromisslose Anwendung der Kriegslogik des 11. September in Großbritannien nötiger als heute, um der eventuell noch intakten Bedrohung durch Terroristen zu begegnen. Und nie schien diese Kriegslogik geeigneter, um genau die Phänomene weiter zu nähren, aus denen sich der Terror bedient.

DOMINIC JOHNSON