Feste Burgen in schlechten Zeiten

Armes London: Ian McEwan liefert in seinem neuen Roman „Saturday“ die Analyse eines nicht zu erschütternden Kindes der Wohlstandsgesellschaft

Das standhafte Glück des Henry Perowne fliegt einfach nie aus der Kurve

VON SUSANNE MESSMER

Es gibt eine Anekdote, nach der Max Ernst aus allen Wolken fiel, als er durch Amerika reiste und zum ersten Mal die roten Berge rund ums Monument Valley sah. Kurz zuvor hatte er noch abstrakte Bilder mit ähnlich felsigen Figuren gemalt und geglaubt, sie seien Produkte seiner Fantasie. Die Wirklichkeit kam ihm wie ein Abbild vor.

So oder so ähnlich muss sich wohl auch der Schriftsteller Ian McEwan gefühlt haben, als seine Fiktion heute vor einer Woche von der Wirklichkeit eingeholt wurde – als der Terroranschlag auf London verübt wurde, der in seinem neuesten Roman „Saturday“ die Gedanken aller bestimmt. „Die Katastrophe, die nun eingetreten war, hatte etwas Unausweichliches, sie kam einem bekannt vor, als wäre alles vor langer Zeit passiert“, schrieb er dann auch am nächsten Tag im Guardian – und bezog sich damit nicht nur auf die eigenen Prognosen. Ein klein wenig schwingt in diesen Sätzen wohl außerdem die Enttäuschung mit, dass sein Roman von nun an vor allem als Voraussage des 7. Juli 2005 gelesen werden wird.

Die Bedrohung spielt allerdings tatsächlich eine große Rolle in „Saturday“, dem neuesten und neunten Roman von Ian McEwan, einem der erfolgreichsten englischen Schriftsteller, der für seinem letzten Roman „Abbitte“ hymnische Kritiken erhielt und für seinen vorletzten, „Amsterdam“, den Booker-Preis bekam. „Die Möglichkeit, dass es zu Ähnlichem kommen könnte, zieht sich wie ein roter Faden durch unsere Tage“, sagt einmal die Hauptfigur von „Saturday“, der 48-jährige Gehirnchirurg Henry Perowne. Der 11. September ist erst achtzehn Monate her, Amerika plant den Krieg gegen den Irak, die Truppen sind schon im Land.

Erzählt wird ein Tag im Leben des erfolgreichen Chefarztes, der 15. Februar 2003, als in London mehr als eine Million Menschen gegen den bevorstehenden Krieg demonstrierten. Schon zu Beginn dieses Samstags beobachtet Henry durch das Fenster seines Schlafzimmers, wie ein brennendes Flugzeug über London fliegt. Eine Stunde später erfährt er, dass es nicht wie vermutet eine Passagier-, sondern eine Frachtmaschine war, dass es sich nicht um den gefürchteten Terroranschlag handelt. Trotzdem: Der Schrecken sitzt, die Atmosphäre des Buches ist definiert. Während Henry zum Squash-Spiel fährt, seine demente Mutter besucht oder am OP-Tisch arbeitet, denkt er in Form kunstvoller Einschübe und Rückblenden immer wieder über den 11. September und den bevorstehenden Krieg nach, wägt ab, fühlt sich als Befürworter, wenn er an seinen irakischen Patienten denkt, der gefoltert wurde, fühlt sich als Gegner, wenn er an seinen amerikanischen Kollegen denkt, der gern auch von „kaltstellen“ redet.

Diese Reflexion der Weltlage ist zweifellos ein wichtiger Teil von „Saturday“. In gewisser Weise benutzt der Roman sie aber auch wie ein Vehikel, um zum Kern zu kommen: zur Analyse eines satten Kinds der Wohlstandsgesellschaft, das an einem anderen Tag vielleicht ebenso klug über den Hunger in Afrika oder Chinas Aufstieg zur Weltmacht hätte nachdenken können. Denn wir haben es hier mit dem zu tun, was manche besonders in Krisenzeiten als das Beste zu bezeichnen pflegen, was „unsere“ Zivilisation hervorgebracht hat: Nach zwanzig Jahren Ehe ist Henry Perowne noch immer leidenschaftlich in seine Frau verliebt. Er ist stolz auf seine gerade erwachsen gewordenen Kinder, einen talentierten Bluesmusiker, den er gern im Probenraum besucht, und eine erfolgreiche Dichterin, deren Leselisten er brav abarbeitet. Nie hat Henry Perownes Interesse am dringlichen, verantwortungsvollen Beruf abgenommen, außerdem genießt er die Früchte seiner Mühen – dass er es sich leisten kann, einen schnellen Wagen zu fahren und ein großes Haus mit schweren Vorhängen und hohen Decken zu bewohnen.

Doch nicht nur Besitz ist ein Schlüssel zum Glück, sondern auch der bewusste Verzicht auf Wahlmöglichkeiten. Da ist zunächst die Liebe Henry Perownes zu seiner Frau, die er, wie er meint, niemals gegen Affären auszutauschen in der Lage wäre. Dann sind da seine Kinder, die er gerade liebt, weil sie anders sind als er, weil „Eltern keinen Einfluss auf ihre Kinder“ haben. Und dann ist da noch der Kleinkriminelle Baxter, mit dem er wegen eines Autounfalls aneinander gerät. Auch dieser Baxter ist weniger böse, weil er böse sein will, sondern eher, weil er einen Genfehler geerbt hat, der jetzt Gefühlsschwankungen verursacht und später zur Zersetzung seines Gehirns führen wird. Das meiste, was wir tun, hat physiologische Gründe. Für vieles, was mit uns geschieht, gibt es keine Schuldigen – Hader und Hass sind überflüssig.

All das wäre in seiner blütenweißen Vollkommenheit natürlich kaum auszuhalten, würde sich Henry Perowne nicht immer auch selbst beobachten. Dieser Held zweifelt und er weiß, dass das keinen Sinn hat, dass es einfach blöd und folgenlos ist, sich täglich zwischen Tee und Diner eine Viertelstunde lang vor sich selbst zu ekeln – genau deshalb wirkt er menschlich, genau deshalb werden ihn viele voreilig mit seinem Autor identifizieren, viele Leser werden sich mit ihm anfreunden und verlassen fühlen, wenn sie „Saturday“ ausgelesen haben.

Und dennoch: Irgendwie bleibt ein schales Gefühl nach der Lektüre dieses Buches. Man denkt ein wenig an andere ganz gewöhnlich Romanfiguren anderer Autoren, an den bodenständigen Frank Bascombe aus Richard Fords „Unabhängigkeitstag“ – übrigens auch ein dicker Roman, in dem ein einziger Tag beschrieben wird – oder an die angenehm blassen Helden Haruki Murakamis. Man erinnert sich, wie sich Haruki Murakamis Helden etwa an die sorgsamen Handgriffe bei der Zubereitung eines komplizierten Gerichtes halten, um nicht aus der Welt zu kippen. Dagegen wirft Henry Perowne die Zutaten mit einer Verve zusammen, die ganz sicher nicht von Verunsicherung erzählt. Mag sein, dass es Figuren wie diesen Henry gibt – seine Unerschütterlichkeit wirkt trotzdem zu gradlinig.

Als „Saturday“ Anfang des Jahres auf Englisch erschien, lobten es die meisten Rezensenten in England und Amerika für seine Beschreibung von standhaftem Glück. Manche aber kritisierten „Saturday“ als zu verkopft und kontrolliert. Dem ist zuzustimmen: Das kleine Universum des Henry Perowne fliegt einfach nie aus der Kurve. Im Gegenteil: Alle Anfechtungen, auch die des Terrors, machen es noch mehr zur festen Burg. Das wirkt manchmal fadenscheinig und faltenlos.

Ian McEwan: „Saturday“. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Diogenes Verlag 2005. 387 Seiten, 19,90 €. Das Buch erscheint nächste Woche