In den Orient, in einem Zug

Richtung Bagdad! Vor siebzig Jahren verband ein Luxuszug das heutige Istanbul mit dem Orient. Deutsche Ingenieure schufen die berühmte Bahnlinie. Agatha Christie nutzte für Besuche bei ihrem Ehemann regelmäßig den Schlafwagen nach Aleppo. Was ist vom einstigen Taurus-Express geblieben?

VON KLAUS HILLENBRAND

„Es war ein kalter Wintermorgen in Syrien. Früh um fünf Uhr wartete auf dem Bahnhof von Aleppo der Zug, der in den Kursbüchern großspurig als ‚Taurus-Express‘ bezeichnet wird. Er bestand aus einem Küchen- und Speisewagen, einem Schlafwagen und zwei gewöhnlichen Reisewagen.“

Agatha Christie, „Mord im Orient-Express“, erschienen 1934

Im Haydarpasa, dem asiatischen Bahnhof von Istanbul, wartet jeden Donnerstag früh auf Gleis 7 der Toros-Express auf die Reisenden. Zwölf der dreizehn Wagen sind frisch gewaschen, ihr tiefes Blau glänzt in der Morgensonne. Sie sollen am nächsten Tag nach knapp 27-stündiger Fahrt im türkischen Gaziantep eintreffen. Der dreizehnte und letzte Waggon mit der Nummer 6 hat kein Wasser gesehen und zeigt tiefe Rostspuren an seiner Außenhaut, die einmal weiß und blau gestrichen war. Es ist der einzige Kurswagen ins syrische Aleppo, wie das blecherne Schild neben der geöffneten Waggontür verrät, Ankunft laut Fahrplan am Freitag um 14.34 Uhr. „Waggonbau Görlitz, 1983“ steht unter dem Eingang. Der Schlafwagenschaffner bittet freundlich herein und hilft dabei, die zahlreichen Gepäckstücke zu verstauen. Noch zehn Minuten bis zur Abfahrt.

Zu den Zeiten, als Agatha Christie regelmäßig von London aus ihren Ehemann, den Archäologen Max Mallowan, besuchte, der in Syrien und im Irak Ausgrabungen leitete, bildete der Taurus-Express das letzte Glied einer luxuriösen Reise von Europa in den Orient. Beginn war nach Überquerung des Kanals Paris, wo der eigentliche Lauf des berühmten Orient-Express begann, der nur die erste und zweite Wagenklasse führte und für den zusätzlich ein besonderer Zuschlag zu entrichten war.

Drei Tage dauerte die Fahrt von Calais bis nach Istanbul, die Reisenden wurden umsorgt von den besonders ausgebildeten Angestellten der Compagnie Internationale des Wagons-Lits mit ihren speziellen Uniformen. Einmal in Istanbul angekommen, blieben die Reisenden nicht etwa den Gepäckträgern und vermeintlichen Unbilden türkischer Droschken und Gasthöfe überlassen. Die Gesellschaft des Orient-Express organisierte für ihre wertvollen Gäste selbstverständlich den Transport ins eigens errichtete Hotel in Pera, dem europäischen Viertel der Stadt.

Reisen, das bedeutete damals noch eine erhebliche Investition an Zeit – eine Vorstellung, die heute unendlich weit entfernt zu liegen scheint. Eine Stunde nach Paris, drei nach Rom, acht nach New York: Im Zeitalter des Düsenjets ist kein Ziel zu fern, wenn man es nach der investierten Fahrtdauer bemisst. Längst geht es nicht mehr um die Reise, sondern ausschließlich ums Ankommen am Zielort. Der Transport ist nurmehr ein lästiges, aber kalkulierbares Mittel zum Zweck, dessen einzige Überraschung im immer engeren Sitzabstand im Flugzeug besteht. Dafür, immerhin, hat die Exklusivität von damals ein Ende gefunden. Wer früher reiste, war entweder reich, verfolgt oder wanderte in ein neues Leben aus. Die Reisenden von heute müssen keine goldgefüllten Leibgurte oder Kreditbriefe mit sich tragen. Es reichen ein mäßig gefülltes Girokonto und die Kreditkarte.

Lässt sich die Zeit zurückdrehen? Können wir Reisen wieder entschleunigen, ohne in die romantizistische Falle von der „guten alten Zeit“ zu tappen? Kaum. Die Oceanliner zwischen Liverpool und New York sind längst abgewrackt – sieht man vom einsamen Vergnügungsdampfer „Queen Mary“ einmal ab. Die großen Expresszüge vergangener Jahrzehnte enden am übernächsten Prellbock.

Auch der Orient-Express hat seinen Betrieb längst eingestellt. Am Istanbuler Hauptbahnhof Sirkeci nahe der Hagia Sophia enden nur noch Vorortzüge. Doch wer das 1892 eröffnete Pera Palace Hotel heute durch die große Drehtür betritt, glaubt sich in die alte Zeit zurückversetzt. Dicke Teppiche dämpfen den Schritt auf dem Weg zur Rezeption, deren Einrichtung der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert entstammt. Im lautlos dahingleitenden offenen Aufzug – dem ersten überhaupt im damaligen Osmanischen Reich – bittet der livrierte Führer, auf einer Polsterbank Platz zu nehmen, während man sanft zur vierten Etage emporschwebt. Die Bar mit ihren ledernen Sesseln und dem Aquarium in der Mitte atmet noch den Geist des europäischen Geldadels, der sich dort von den ungewohnten Eindrücken Konstantinopels zu erholen trachtete.

Das Hotel, längst nicht mehr der ersten Kategorie zugehörig, nutzt seine glorreiche Vergangenheit: Auf Wunsch kann das recht spartanisch eingerichtete Zimmer besichtigt werden, in dem Agatha Christie einst nächtigte und angeblich den „Mord im Orient-Express“ verfasste – Letzteres eine umsatzfördernde Legende. Und ein älterer Herr, der lange Zeit in Hannover Fabrikarbeit geleistet hat, verkauft im Erdgeschoss Erinnerungen an den berühmten Zug.

Die Fahrt zum Bahnhof Haydarpasa auf der asiatischen Seite des Bosporus muss man heutzutage freilich selbst organisieren. Im aufsteigenden Frühnebel verlässt die Fähre ihren Anlegeplatz unterhalb der Altstadt am Goldenen Horn. Zwanzig Minuten später, nach einer Fahrt durch das ruhige Wasser der Meerenge und vorbei an nur schemenhaft sichtbaren Schiffen, glänzt das monumentale Bahnhofsgebäude neben dem Hafen in der Sonne.

Agatha Christie nutzte bei ihrer ersten Fahrt in den Orient 1928 die Dienste des Reisebüros Thomas Cook, und bereute es nicht: „Ich war froh, meinen Führer bei mir zu haben, denn auf dem Haydarpasa-Bahnhof ging es zu wie in einem Narrenhaus. Die Leute schrien und brüllten und gestikulierten, um die Aufmerksamkeit des Zollbeamten auf sich zu lenken.“ Heutzutage ist der sorgfältig restaurierte Bahnhof fast menschenleer. Die türkische Staatsbahn ist gegenüber den schnelleren Bussen gewaltig ins Hintertreffen geraten.

Der Bus benötigt für die Strecke nach Syrien nur zwanzig Stunden. Das Flugzeug überwindet die Entfernung in gut zwei Stunden. Eisenbahnreisen auf Fernstrecken sind zum Anachronismus geworden. Doch wir wollen reisen und die Entfernung wieder einmal spüren. Es muss doch noch etwas geben zwischen A und B – selbst wenn das Reisen an sich auch in der Vergangenheit natürlich nie Selbstzweck war. Es gibt ein Ziel: Aleppo, die tausende Jahre alte Handelsstadt zwischen Mittelmeer und Mesopotamien. Oder ist doch der Weg das Ziel – und dieser angerostete Waggon Nummer 6 als Heimat auf Zeit besser als jedes Orienthotel?

Noch fünf Minuten bis zur Abfahrt, die Koffer sind provisorisch verstaut, doch langsam wird deutlich, dass dem Toros-Express ein wichtiger Waggon fehlt: Ein Speisewagen ist, entgegen allen Erwartungen, nirgends zu erblicken. Die wenigen Reisenden hasten zum Kiosk; Brot, Käse, Cracker, Kekse und Wasser müssen her. Dann, pünktlich um 8.55 Uhr, ein leichter Ruck, und der Zug verlässt Istanbul. Die Entschleunigung beginnt vielversprechend im Schneckentempo.

Es ist nicht nur eine Reise auf den Spuren der englischen Schriftstellerin Agatha Christie. Die Bahn selbst ist ein Zeugnis deutschen Kapitals und Expansionsdrangs. Haydarpasa, eingeweiht im Jahre 1909, erinnert mit seinen Türmchen nicht zufällig an wilhelminische Prachtbauten in Berlin. Anatolische und Bagdadbahn sind unter Leitung deutscher Fachleute errichtet worden, den Bahnhof baute die Firma Philipp Holzmann, für die Finanzierung sorgte die Deutsche Bank.

Der Kaiser zeigte besonderes Interesse am Bau, entsprach die Strecke doch seinem Streben nach dem „Platz an der Sonne“, den er seinem Reich im Orient zu schaffen trachtete. Georg von Siemens, Vorstandssprecher der Deutschen Bank von 1870 bis 1900, hatte dieses Engagement lange Zeit skeptisch beobachtet: Die „obwaltenden politischen Verhältnisse“ ließen es „nicht rätlich erscheinen, sich auf weitaussehende Unternehmungen einzulassen, selbst wenn mit Gewissheit auf eine Rentabilität gerechnet werden dürfte“, schrieb er im Jahr 1887.

Dem Druck der Politik jedoch konnte und wollte die Bank nicht widersprechen, und die betrachtete eine deutsche Eisenbahn bis nach Bagdad als ein politisches Instrument zur Sicherung deutscher imperialistischer Interessen – gegen England und Frankreich, die im Orient die Strippen zogen. 1889 wurde die Anatolische Eisenbahngesellschaft gegründet, um den Bau voranzutreiben.

Der Toros-Express bummelt dahin. Die dreizehn Waggons schleichen durch die Vororte Istanbuls, halten an diversen kleinen Bahnhöfen. Entlang dem Marmarameer wechseln rasch erbaute Wohnkomplexe, Industrieansiedlungen und militärisch genutzte Hafenanlagen einander ab. Bis Izmit haben sich die Verspätungen auf vernachlässigenswerte zwanzig Minuten summiert. Dort löst der junge Schaffner sein Versprechen ein und macht in dem fast leeren Wagen aus zwei Doppelabteilen ein großes Vierer-Apartment mit frisch bezogenem Doppelbett, Sitzbank und gleich zwei ausklappbaren Waschgelegenheiten. Doch ein Gang durch den Zug wird schon am Ende des Schlafwagens der Syrischen Staatsbahn gestoppt: Die Reisenden nach Aleppo sind vom großen türkischen Rest des Zuges durch eine Tür mit einer dicken rostigen Schraube getrennt und vom Rest des Zugs hermetisch abgeschlossen.

Der Bau der Anatolischen Bahn begann 1889, und schon ein Jahr später konnte die erste Teilstrecke eröffnet werden. Der osmanische Sultan verpfändete dazu die Getreideeinnahmen ganzer Provinzen, die von der Strecke durchzogen wurden. Das sollte garantieren, dass die vertraglich festgelegte Mindesteinnahme auch dann floss, wenn es nicht genug Güterverkehr geben sollte und zu wenige Reisende die Züge nutzen sollten. Damit trug das nahezu bankrotte Osmanische Reich praktisch alle finanziellen Risiken für die Bahn in den Orient.

Unser Zug verlässt die Küste und durchfährt nun enge Täler und Schluchten mit üppiger Vegetation. Brücken und kurze Tunnel wechseln einander ab. Die freundliche Landschaft erinnert an europäische Mittelgebirge, dasselbe gilt für die vielen kleinen Bahnhöfe, an denen dieser „Express“ genannte Bummelzug Station macht: Es ist unzweifelhaft deutsche Architektur des frühen 20. Jahrhunderts, die hier in die Türkei versetzt worden ist. Selbst die ziegelgedeckten, steinernen Aborte neben den Hauptgebäuden machen den Eindruck, als entstammten sie der schwäbischen Eisenbahn. Auch die Bahnbeamten an der Strecke waren in den Frühzeiten der Eisenbahn Deutsche. Heute stehen türkische Staatsbedienstete stramm, wenn der Zug in Arifiye, Pamukova oder Bayirköy hält.

„Der Übertritt von Europa nach Asien geschah fast unmerklich, aber ich hatte das Gefühl, als ob die Zeit hier weniger Bedeutung hätte“, erinnerte sich Agatha Christie. „Gemächlich zuckelte der ‚Express‘ die Küste des Marmarameeres entlang und kletterte dann in die Berge hinauf – es war unbeschreiblich schön.“

In Eskisehir, wo die Strecke nach Ankara abzweigt, hat der Toros-Express schon fast eine Stunde Verspätung. Lange stehen wir im Bahnhof, die Lokomotive wird ausgewechselt.

Danach wird die Landschaft karger, und irgendwann sind die Augen müde von so viel Aussicht. Zwangsläufig geht der Blick auf das Naheliegende, den Zug und die Mitreisenden. Der Wagengang wird zum Treffpunkt. Da ist ein syrisches Ehepaar mit Kleinkind, von denen nur der Mann sichtbar wird, weil Frau und Kind ihr Abteil nicht verlassen. Ganz am anderen Ende des Waggons ist das Abteil einer allein reisenden Italienerin – oder kommt die mittelalterliche Dame aus Spanien? Ein Pärchen aus Istanbul – er Jordanier, sie Palästinenserin – will nach Amman, den kranken Vater besuchen. Dann gibt es noch den syrischen Schlafwagenschaffner und seinen türkischen Kollegen, der irgendwann aussteigt, die zwei Deutschen – das ist die ganze Reisegesellschaft, die nun, bei anbrechender Dunkelheit, damit beginnt, die Aschenbecher bis über den Rand mit Kippen zu füllen. Der Zug rollt, steht an einer Station, rollt wieder. Konya ist noch weit weg.

Es wird dunkel, und Shadi aus Istanbul bringt Cracker, die er gegen Schmelzkäse eintauscht. Der Schaffner sorgt für Tee und lässt die Heizung laufen, bis man nur noch am geöffneten Fenster im Gang stehen mag. Judy erzählt von ihrer Arbeit als Sprachlehrerin. An der Leiter zum oberen Bett fehlen fast alle Sprossen, und der Teppichboden zeigt eine fleckige Farblandschaft. Der Zug rollt. Wie war das bei Agatha Christies Meisterdetektiv Hercule Poirot bei dessen Reise? Da fuhren gar nur drei Gäste im Schlafwagen – zwei von ihnen entpuppen sich später als Mörder.

Im Jahr 1928, als nicht die Kunstfigur Poirot, sondern die Schriftstellerin selbst zum ersten Mal in den Orient aufbrach, war der Taurus-Express noch gar nicht eingerichtet worden, und Christie musste mit Regionalzügen vorlieb nehmen. Erst zwei Jahre später, 1930, wurde mit dem Taurus-Express der erste Luxuszug Kleinasiens auf die Schienen gestellt. Die abenteuerliche Strecke durch das gleichnamige Gebirge zwischen Konya und Adana war da erst seit zwölf Jahren fertig gestellt. Finanzielle Schwierigkeiten und technische Probleme hatten den Bau der Bagdadbahn verzögert. „Keine Aborte im Zug“, warnt der Baedeker noch 1914 vor einer Bereisung einer damals gerade fertig gestellten Teilstrecke.

Was wir heute als Entschleunigung verstehen, galt damals allerdings als unglaublicher Fortschritt. Statt Wochen auf Pferden zu verbringen, war eine Reise in wenigen Tagen möglich – auch wenn die Züge anfangs nur tagsüber unterwegs waren. „Wir haben in Europa nahezu verlernt, den Wert einer Bahnverbindung, besonders auf weite Entfernung, genug hoch einzuschätzen“, notiert der Orientreisende E. von Hoffmeister im Jahre 1910, als er nach Monaten beschwerlichen Reisens den ersten Schienenstrang erblickt: den der Bagdadbahn. In seinem Buch „Kairo – Bagdad – Konstantinopel“ schreibt er vom „berauschenden Zauber“, den „ein Bahnkörper, Schienen, Wagen und der Pfiff einer Lokomotive auf uns Kulturmenschen auszuüben vermögen“.

Auf bis zu 1.467 Meter windet sich die eingleisige Strecke durch Schluchten, Tunnel und über Viadukte hinauf und folgt dabei der uralten Handelsstraße nahe der Kilikischen Pforte, wo schon Alexander der Große, Griechen und Römer vorbeizogen und wo im Juni 1190 Kaiser Friedrich Barbarossa während des Kreuzzugs nach Palästina beim Baden den Tod fand. Zu sehen gibt es vom Gebirgspanorama heutzutage freilich nichts, denn der Express durchfährt die Region mitten in der Nacht.

Früh am Morgen durcheilt der Zug die weite Ebene von Adana. Zum Frühstück gibt es Cracker und Kaffee. Orangenplantagen links und rechts, es wird rasch wärmer. Die Verspätung beträgt jetzt vier Stunden.

In Adana endloses Rangieren, zwei Wagen werden beiseite gestellt. So wird Reisen wieder ein sinnliches Erlebnis. Aber muss es gar so lange dauern? Wir haben doch ein Ziel, Aleppo, ganz anders als Kreuzfahrtpassagiere, die sich einmal über Wasser im Kreis herumdrehen. Und so sehenswert ist der Bahnhof von Adana nun auch nicht.

Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs hatte nicht nur Kaiser Wilhelm ausgespielt, auch die hochfliegenden Pläne von einer deutschen Kontrolle des Orients waren beendet. Der türkische Teil der Bagdadbahn wurde 1928 Staatsbesitz Ankaras. 440 Millionen Schweizer Franken betrug der Preis, zahlbar in Raten bis zum Jahr 2002. Doch von 1944 an stellte die Türkei alle Zahlungen ein. Die Anatolische Eisenbahn-Gesellschaft blieb auf Kosten in Höhe von 35 Millionen Franken sitzen.

Der Südosten des Osmanischen Reichs kam nach Kriegsende unter die Kontrolle Großbritanniens (Irak, Palästina) bzw. Frankreichs (Syrien). Noch war das Flugzeug keine ernsthafte Konkurrenz. Die Compagnie Internationale des Wagons-Lits konnte also auf einen Erfolg für einen Luxuszug von Istanbul in den Orient hoffen. „London–Bagdad in acht Tagen mit dem Simplon-Orient Express & dem Taurus-Express“ warb 1931 ein Plakat der Gesellschaft, das zugleich „Sicherheit, Schnelligkeit, Wirtschaftlichkeit“ versprach. Das war sensationell. Tatsächlich wies die Bahnlinie damals im Irak noch eine beträchtliche Lücke auf, die mit Autobussen überbrückt werden musste.

Agatha Christie hat zu Besuchen bei ihrem Mann Max Mallowan diesen Weg oft genommen. Einmal, 1931, saß sie in Nisibin, dem damaligen Endpunkt der Bahn, im syrisch-irakischen Grenzgebiet zwei Tage lang fest, weil der Regen eine Weiterfahrt nach Mossul unmöglich machte. „Das Essen war immer das gleiche: Rühreier und zähes Huhn. Ich las das einzige Buch, das ich bei mir hatte; dann blieb mir nichts anderes übrig, als mich mit meinen Gedanken zu beschäftigen“, schreibt Christie. Ihre Erlebnisse verarbeitete sie später in dem Roman „Verdrängter Verdacht“.

Nach Süden hin reichte eine Abzweigung des Taurus-Express bis nach Kairo. Freilich fehlten zwischen Tripolis und Haifa die Gleise, weshalb auch dort auf einen Busservice zurückgegriffen werden musste. „London–Kairo in sieben Tagen mit dem Zug“, annoncierte die Gesellschaft des Orient-Express dennoch.

Der heutige Toros-Express durchfährt die fruchtbare Tiefebene von Adana, vorbei an Dörfern, Autobahnen und der Kreuzritterburg Toprak Kalesie, die auf einem Hügel thront. Niemand leert die Aschenbecher im Gang. Die Augen schmerzen inzwischen vom übersteigerten Konsum der mitgeführten Lektüre.

Dem Schaffner ist der Kaffee ausgegangen, uns der Gesprächsstoff. Weiter geht es hinauf in das dicht bewaldete Amanusgebirge. Eine wunderschöne Landschaft für denjenigen, der jetzt noch schöne Landschaften sehen möchte. Langsam durchkriecht der Zug Tunnel um Tunnel. Es ist längst Mittag geworden, und eigentlich müssten wir jetzt schon kurz vor Aleppo in Syrien sein. Man kann es mit der Entschleunigung auch übertreiben, ist die übereinstimmende Meinung im Wagen Nummer 6.

Irgendwann hat der Zug das Gebirge überwunden und erreicht eine nahezu vegetationslose Hochebene und mit ihr endlich den Bahnhof von Fevzipasa. Hier trennen sich die Strecken für die vielen Wagen in Richtung Gaziantep und unseren einen angerosteten Waggon nach Syrien auf der alten Bagdadbahn. An diesen wird eine endlose Reihe Güterwagen angekoppelt, und weiter geht’s ins nur wenige Kilometer entfernte Islahiye. Über einhundert Menschen, bepackt mit schweren Säcken und gewaltigen Koffern, haben am Bahnsteig stundenlang auf den verspäteten Toros-Express warten müssen. Sie dürfen nun in zwei angehängten alten Wagen hinter der rußenden Diesellokomotive Platz nehmen.

Die durchgehende Bahnverbindung von Istanbul bis nach Bagdad wurde erst im Jahre 1940 fertig gestellt. Vier Tage dauerte die komplette Reise in den neuen, stählernen Schlafwagen. Kairo hingegen hat nie ein Zug aus Europa erreicht. Im Zweiten Weltkrieg erbauten britische Truppen zwar die fehlende Verbindung zwischen dem libanesischen Beirut und Haifa in Palästina. Doch noch bevor die Gleise verlegt waren, sprengten Angehörige der jüdischen Haganah im Kampf für die Unabhängigkeit Israels einen Tunnel nahe der heutigen Grenze zum Libanon in die Luft.

Nach dem Krieg blieb die Grenze zwischen beiden Staaten hermetisch geschlossen – bis heute. Kein Bedarf für einen Luxuszug. Und auch der alte, luxuriöse Taurus-Express verschwand im Zweiten Weltkrieg für immer von den Schienen. Er fiel umstandslos der Beschleunigung des Reiseverkehrs durch das Flugzeug zum Opfer.

Türkische Soldaten, die im Gang unseres Schlafwagens stehen müssen, begleiten den Zug auf den letzten Kilometern bis zur syrischen Grenze. Der Express fährt nur noch im Schritttempo. Was soll man tun? Telegrafenmasten und Schienenstöße zählen? Das Buch wieder aufklappen? Mit dem Schaffner die Verspätungen addieren?

Dann tauchen in der kargen Steppenlandschaft Zäune und Wachtürme auf. Kurz darauf läuft der Toros-Express nach nunmehr 30-stündiger Fahrt im syrischen Maydan Ikbis ein. Wieder ein deutsches Bahnhofsgebäude mit schindelgedecktem Dach. Pässe werden eingesammelt. Die Fernreisenden sind privilegiert und dürfen im Zug sitzen bleiben. Fahrgäste im „kleinen Grenzverkehr“ müssen aussteigen und Säcke und Kisten öffnen.

Es dauert rund eine Stunde, bis der Zug wieder anruckt. Die Dunkelheit bricht herein. Das Schotterbett unter den alten Gleisen der Bagdadbahn ist fast verschwunden, und so schwankt der Toros-Express auf der kurvenreichen Strecke nach links und rechts wie ein Schiff bei schwerem Seegang. Richtung Aleppo. Noch zehn Minuten, sagt der Schaffner mindestens zum dritten Mal. Die Fahrgäste stehen rauchend im Gang und blicken in die Nacht. Droht etwa noch ein Abendessen mit Brot und Crackern?

Um halb sieben Uhr tauchen viele Lichter auf. Es ist 19.30 Uhr, als der Zug, inzwischen nur noch aus einem einzigen Wagen und dafür gleich zwei Lokomotiven bestehend, quietschend im Hauptbahnhof von Aleppo hält. 34 Stunden, 30 Minuten für fast 1.500 Kilometer, immerhin 30 Minuten weniger als im Jahre 1939.

Die Reisenden sind nicht von Wanzen überfallen worden wie Agatha Christie bei ihrer ersten Fahrt („Die Tierchen fielen hungrig über die saftigen Reisenden her“). Die Betttücher waren sauber gestärkt und gefaltet. Die Gleise von Krupp haben keinen Schienenbruch erlitten. Vom einstigen Luxus des Taurus-Express freilich ist wenig bis nichts geblieben, an eine Weiterfahrt nach Bagdad gar nicht zu denken. Und gründlich entschleunigt sind wir alle – gründlicher, als wir es uns jemals vorstellen konnten.

Aber dafür hat es während der gesamten Reise nicht eine einzige Fahrkartenkontrolle gegeben.

KLAUS HILLENBRAND, geboren 1957, ist Chef vom Dienst bei der taz