„Gewaltbereiter Islamismus wird hip“

Die Anschläge in London stehen für eine beunruhigende Entwicklung: In Europa bildet sich eine islamistische Jugendszene mit eigener Subkultur – ein ideales Milieu, um junge Selbstmordattentäter zu rekrutieren

taz: Herr Daase, die Londoner Bomben wurden von einheimischen Selbstmordattentätern gezündet. Hat der Terrorismus in Europa eine neue Qualität?

Christopher Daase: Damit ist zweifellos eine weitere Eskalationsstufe erreicht. Jetzt wird es noch schwieriger, Anschläge in Europa zu verhindern. Es muss zunehmend befürchtet werden, dass sich Attentäter mit kleinen Mengen Sprengstoff irgendwo in die U-Bahn setzen. Sie müssen nur bereit sein, ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Das wird sich auf das Sicherheitsgefühl auswirken.

Wie erklären Sie sich, dass scheinbar gut integrierte junge Briten zu Selbstmordattentätern wurden?

Meiner Ansicht nach haben wir es mit einem neuen jugendkulturellen Phänomen zu tun. In bestimmten Kreisen gilt es offensichtlich inzwischen als hip, radikaler Islamist zu sein. Aus diesem Milieu können auch Selbstmordattentäter rekrutiert werden.

Woran machen Sie das fest?

Ich finde die Rekrutierungsvideos sehr aufschlussreich: Religion oder politische Aufrufe, gegen den Westen zu kämpfen, sind zweitrangig. Wichtiger ist der Aufruf zu einem korrekten, heldenhaften, männlichen Leben. Der Appell an die Maskulinität steht im Vordergrund. Zudem sind diese Aufrufe besonders verpackt. Eine passende Dschihad-Musik transportiert die Botschaft.

Kann man die islamistische mit der rechtsextremen Jugendkultur vergleichen?

Ja, ich sehe hier sogar eine erstaunliche Parallele. Es ist cool, für den Dschihad zu sein, es ist cool, diese Musik zu hören. Es ist cool, auf Amerika zu schimpfen und sich über im Irak gefallene Soldaten zu freuen. In beiden Szenen spielen die Verpackung der Inhalte und die Cliquenbildung eine wichtige Rolle. Ich halte diese Entwicklung für eine große Gefahr.

Wird der gewaltbereite Islamismus also quasi ein postpubertäres Phänomen?

Nein, diese Sichtweise klingt viel zu harmlos. Man muss im Übrigen unterscheiden zwischen den Ausführenden und den Hintermännern. Die Drahtzieher im Hintergrund haben zweifellos klare politische Motive – zum Beispiel den Abzug der Amerikaner und der alliierten Truppen aus dem Irak oder aus Afghanistan. Dass mit den Anschlägen konkrete Aufforderungen an den Westen verbunden sind, wird bei uns nur zu gerne unterschlagen.

Was verraten die Londoner Anschläge über die Handlungsfähigkeit von al-Qaida?

Das ist schwer zu beurteilen. Ich halte zwei Interpretationen für plausibel. Die erste: Al-Qaida hat die Strategie geändert. Angesichts des hohen Fahndungsdrucks setzt die Führung auf lokale Gruppen und versucht, mit Selbstmordattentaten für Unruhe im Westen sorgen. Die zweite: Diese lokalen Gruppen agieren inzwischen weitgehend autonom und haben, wenn überhaupt, nur noch eine sehr lose Verbindung zu al-Qaida. Die Behauptung, al-Qaida sei weiter als global operierende Organisation funktionsfähig, ist deshalb meiner Ansicht nach voreilig.

Bayerns Innenminister Beckstein fordert nun, Moscheen stärker zu überwachen. Ist das der richtige Weg?

Die Überwachung bestimmter muslimischer Gemeinschaften ist genauso sinnvoll wie die Praxis, rechtsradikale Gruppierungen zu beobachten. Wo Hass gepredigt und zu Gewalt aufgerufen wird, muss man nachrichtendienstlich tätig werden. Ich würde da keinen großen Unterschied machen, in welche Gruppen man geht und wo man beobachtet.

Verstärkt man damit nicht den Generalverdacht gegen muslimische Gemeinden?

Nein, ich glaube, dass man durch eine gezielte Praxis deutlich machen kann, dass es hier um die Verhinderung von Straftaten geht, nicht um einen Generalverdacht oder eine Generalanklage.

Aber was bringt Überwachung? Der britische Geheimdienst hatte keinen der Attentäter im Blick.

Man wird nie alle Gewaltbereiten im Bild haben. Aber das ist kein Argument, die Überwachung generell zu unterlassen. Man sollte doch wenigstens versuchen, die Agitierenden ausfindig zu machen und an ihrem Tun zu hindern.

Aber müssten wir nicht viel stärker auf gesellschaftliche Prävention setzen?

Selbstverständlich, aber das ist keine Frage einer Alternative. Und man muss ehrlicherweise sagen: Wenn man es mit einem islamistischen Jugendkult zu tun hat, dann ist Prävention ungeheuer schwer.

Ein Ende des Terrors ist also nicht in Sicht?

Bisher nicht. Aber die jüngsten Ereignisse könnten auch auf eine positive Entwicklung hindeuten. Wir beobachten aktuell eine Tendenz zur Verflachung des islamistischen Terrorismus. Lokale Gruppen führen die Anschläge aus, der Einfluss der Führungsgruppe von al-Qaida wird offenbar schwächer. Falls sich das fortsetzt – es zwar zu lokalen Terroranschlägen kommt, ihre Auswirkungen aber weniger dramatisch sind oder so empfunden werden –, dann könnte die Terrorwelle irgendwann schlicht auslaufen.

INTERVIEW: ASTRID GEISLER