Die böse Welt voller Kinder

Der österreichische Hyperrealist Gottfried Helnwein zeigt seine Endlosschleife „Beautiful Children“ im Ludwig Museum Oberhausen. Auch frische, menschenleere Breitwandlandschaften aus Irland

AUS OBERHAUSENPETER ORTMANN

Die Augenmuskulatur muss gezwungen werden. Der Blick will weg von der Leinwand. Selbst die Stille im Oberhausener Ludwig-Museum tut weh. Wenn Neugier zum Fluchttier wird, hängen an der Wand Kinderportraits von Gottfried Helnwein (56). Seit 30 Jahren sind malträtierte Nachkommen des homo sapiens die Bilderfindung des österreichischen Hyperrealisten, der in meisterhafter Aquarell-Technik die Grenze zwischen Malerei und Fotografie verschwinden ließ.

Die Verursacher der weltweiten Kinderausbeutung hassen ihn. Schon bei seiner ersten Ausstellung 1971 im Wiener Künstlerhaus waren eines Tages alle Bilder mit gelben Stickers überklebt, auf denen „Entartete Kunst“ stand. Später legte er bandagierte und mit chirurgischen Klammern versehene Kinder auf die Straße und ertrug die bösartigen Reaktionen. Helnweins Kunst polarisiert extrem und die Seite der Widersacher ist ungleich größer. Das motiviert den Künstler mit dem unvermeidlichen Piraten-Kopftuch, der 1997 Deutschland „emotionslos“ verließ und seitdem in seinem Atelier in Los Angeles arbeitet und in einem Schloss in Irland lebt. „Der Tag, an dem mich die gesamte Spießergesellschaft umarmen würde, wäre der Tag, an dem ich meine künstlerische Arbeit beenden würde“, sagt er.

Die „Beautiful Children“ Ausstellung, die noch bis Oktober läuft, hat er mit aufgebaut, bei der Eröffnung brav seine Autogrammstunde abgehalten. Verstört standen die Besucher vor seinen großformatigen, entstellten Föten in Fomaldehyd, vor seinen frühen Zeichnungen von entstellten Kindern mit Titeln wie „Guten Morgen, liebe Enten“ (Bleistift, 1972). Manch einer hat sein Plattencover von den Scorpions als Original von 1985 entdeckt, das einen schreienden Helnwein mit verbundenem Kopf und Gabelzinken in den Augen ziert. Die Jüngeren staunten vor der „The Golden Age“-Serie mit dem amerikanischen Skandal-Musiker Marilyn Manson in weißer Uniform und Tränen in den Augen. Seine Nähe zur Pop-Kultur hat ihn oft auch bei Kunsthistorikern in Verruf gebracht.

Im obersten Stock, wo das „Kuss“-Video läuft, müssen die Besucher quälend lange warten, bis sich die Lippen der beiden Kinder mit den langen silbernen Harren endlich treffen – erst dann läuft ihnen unvermeidlich Blut aus den Mundwinkeln. „Jedes Erziehungssystem zu allen Zeiten und in allen Gesellschaften hatte immer nur ein Ziel: Menschen gefügig zu machen, sie zu brechen,“ sagt Helnwein, der seine Antriebsfeder in der eigenen Kindheit vermutet. Er sei damals sehr unsicher und verwirrt gewesen und hätte nur eines mit Sicherheit gewusst, dass er in einer fremden Welt gelandet war und nicht da sein wollte.

Seine neuen Arbeiten, heute meist Mischtechniken aus digitaler Fotografie und Malerei, zeigen „schöne Kinder“ in faschistoiden Uniformen und eine zeitgenössische Affinität zur Romantik. Noch feucht scheint das Triptichon „Das stille Leuchten der Avantgarde“ (2005) zu sein, zwei blutige Selbstportraits ohne Schrei und auf der Haupttafel das Eisschollen-strotzende „Ende der Hoffnung“ von Caspar David Friedrich. Ähnlich schein-romantisch sind auch seine irischen Landschaften, deren Breitwandformat (100 x 500 cm) ungewöhnliche Sehweisen erfordern. Durch die gestreckte Fischaugenperspektive hat der Betrachter Mühe aus der Nähe selbst ein gestochen scharfes Detail zu fokussieren. Und die surreale Lichtchoreografie und das Fehlen von Menschen oder Gebäuden kreiert dunkle Ahnungen. Helnwein würde dann sicher Marcel Duchamp zitieren: „Ein Kunstwerk basiert immer auf den zwei Polen des Betrachters und des Machers, und der Funke, der aus dieser bipolaren Aktion kommt, lässt etwas neues entstehen – wie Elektrizität.“