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Mittelalter online: Islamisten nutzen längst das Internet, um ihre religiös verbrämten Aufrufe zur Gewalt zu verbreiten. Das Netz trägt zur Radikalisierung insbesondere junger Muslime bei

AUS ANKARA FLORIAN HARMS

Wie kann es geschehen, dass junge, in Europa aufgewachsene Menschen aus scheinbar stabilen sozialen Verhältnissen ihr kulturelles Umfeld radikal ablehnen und sich in Massenmörder verwandeln? Die wichtigsten Gründe für einen solchen Wandel sind sicherlich im persönlichen Lebensumfeld eines Täters zu suchen und können nicht verallgemeinert werden. Enge zwischenmenschliche Kontakte dürften bei der konkreten Rekrutierung von Attentätern ausschlaggebend sein. Einzelne Moscheen in Europa, in denen extremistische Imame predigen oder in denen Islamisten innerhalb der Gemeinde wirken, spielen dabei eine entscheidende Rolle. Jedoch haben Polizeiermittlungen und Recherchen von Islamwissenschaftlern ergeben, dass auch das Internet Einfluss auf die Radikalisierung religiös-politischer Aktivisten haben kann.

Extremistische Prediger

Mittlerweile zielen unzählige islamistische Online-Inhalte auf muslimische Jugendliche ab. Da sind einmal die unmissverständlichen Appelle extremistischer Prediger wie etwa jene des britischen Scheichs Umar Bakir Muhammad, der einst aus seinem Heimatland Syrien ebenso ausgewiesen wurde wie aus seinem späteren Gastland Saudi-Arabien. In den Neunzigerjahren propagierte er in Londoner Moscheen die Errichtung eines globalen islamischen Staates und den heiligen Krieg. Seine Anhänger waren vor allem an Universitäten aktiv.

Später verlagerte der Scheich seine Agitation ins Internet und nutzte zum Beispiel das unter arabischen Jugendlichen beliebte Chatprogramm „Paltalk“. Im Januar drängte er dort die Teilnehmer eines Online-Forums, sich al-Qaida anzuschließen: „Ihr sollt nicht mir folgen, sondern ihr sollt diesen Leuten folgen. Allah hat gesagt, dass sie die Siegreichen sind. (…) Und heute ist der Befehlshaber dieser siegreichen Gruppe (…) Ussama Bin Laden. Deshalb unterstützt ihn!“ Auf die Nachfrage einer weiblichen Chatterin, ob auch Frauen Selbstmordattentate ausführen dürften, gab der Scheich eine klare Antwort: „Das ist kein Problem, es gibt keine Beschränkung.“

Was jedoch noch wichtiger sein kann als die virtuellen Appelle islamistischer Prediger: Muslimische Jugendliche im Westen bekommen über das Internet einen anderen Blick auf den Konflikt im Irak vermittelt, als ihn westliche Fernsehstationen liefern. Zwar zeigen auch die über Satellit empfangbaren arabischen Fernsehsender, wie al-Dschasira und al-Arabia, häufiger und deutlicher Opfer unter der Zivilbevölkerung. Doch in punkto Schonungslosigkeit werden sie von den einschlägigen Websites um Längen geschlagen.

Ein Beispiel ist die bekannte Seite Al-Basrah.Net, die im April 2003 eingerichtet wurde, um Geschichte, Kultur und Kunst der südirakischen Stadt Basra zu dokumentieren. Wegen des „kriminellen Krieges gegen den Irak und der folgenden Besetzung“, so die Betreiber, sei die Seite aber dazu umgewidmet worden, den „imperialistischen Terror sowie den Widerstand gegen die Besatzungsarmeen“ zu zeigen.

Bilder von den Opfern

Anklickbar sind hier Hunderte von Bildern, auf denen laut Angaben der Betreiber Opfer amerikanischer Luftangriffe im Irak zu sehen sind: zerfetzte Körper, verstümmelte Kinder, weinende Mütter. Die Großaufnahmen sollen direkt von Kampfplätzen und aus Krankenhäusern stammen und sind mit eindeutigen Kommentaren versehen: „Das wahre Gesicht der amerikanischen Demokratie“ und „Nachrichten, die ihr auf CNN nicht findet“. Andere Bilder zeigen US-Soldaten mit gezückter Waffe vor Leichen von Irakern. Eine Untersektion der Website ist dem Widerstand in Falludscha gewidmet. Hier sollen heroisierte Kampfszenen bewirken, dass der Betrachter sich mit den Aktivisten solidarisiert. Zahlreiche selbst gedrehte Videos können aus dem Netz heruntergeladen werden und zeigen bewaffnete Angriffe. Eine typische Szene: Vermummte Angreifer schleichen sich in einen Hinterhalt an einer Fernstraße, warten – und feuern auf einen amerikanischen Militärkonvoi, der in Flammen aufgeht. Eine der Video-Sektionen ist mit einem Gedicht des irakischen Dichters Ma’ruf ar-Ramadi unterschrieben, das dieser im Jahr 1941 gegen die britische „Schutzmacht“ schrieb. So wird der jetzige Kampf in eine historische Dimension gerückt.

Websites wie Al-Basrah.Net sind sicher nicht der entscheidende Grund, warum junge Muslime zu Attentätern werden. Doch sie können zu ihrer Radikalisierung beitragen. Solange die alltägliche Gewalt im Irak anhält, so lange wird es auch solche Websites geben.