Antisemitische Obsessionen

Wolfgang Kraushaars Buch „Die Bombe im Jüdischen Gemeindehaus“: ein einziger Bösewicht und viele Verführte? Kritische Nachbemerkungen zu einem Buch, das eines der letzten Geheimnisse aus der Frühzeit des linksradikalen Terrrorismus enthüllt

Wolfgang Kraushaar scheut eine tiefergehende und womöglich schmerzhafte Selbstreflexion

VON MARTIN KLOKE

Selten ist ein Buch aus der Feder eines Alt-68ers so gefeiert worden: Von der FAZ bis hin zur SZ verneigen sich die Rezensenten bewundernd vor einem Autor, dem es gelungen ist, eines der letzten Geheimnisse aus der Frühzeit des linksradikalen Terrrorismus zu enthüllen. In der Tat haben die Recherchen des Politologen Wolfgang Kraushaar ein Trio infernale zutage gefördert: Peter Urbach als einen im Solde des Verfassungsschutzes stehenden Bombenlieferanten, Albert Fichter als Bombenleger und Dieter Kunzelmann als mutmaßlichen Drahtzieher des fehlgeschlagenen Anschlags vom 9. November 1969 – Zusammenhänge, die sich Szeneangehörige bislang nur hinter vorgehaltener Hand zugeraunt hatten. Die polizeiliche Sprengung eines Duplikats der Bombe ergab den schrecklichen Befund: Wäre die Bombe explodiert, hätte sie nicht nur das Gemeindehaus der Berliner Juden, sondern auch viele der 250 Teilnehmer der Gedenkveranstaltung zum Jahrestag der Reichspogromnacht „zerfetzt“. Der dem linksradikalen Berliner 68er-Biotop entstammende antisemitische Anschlag hätte – nur 24 Jahre nach Ende des Naziterrors – für eine menschliche und politisch-moralische Katastrophe sorgen können, die die innere Entwicklung der postfaschistischen Bundesrepublik in ihren Grundfesten erschüttert hätte.

Ist es pietätlos, eine fulminante Enthüllungsstory wie diese mit kritischen Nachbemerkungen zu versehen? Dass Kraushaar die linke Deutsch-Israelische Studiengruppe in „Studiengesellschaft“ umbenennt, mag ein Tippfehler sein. Dass er den von den Nazis ins Exil getriebenen Adorno posthum zum „jüdischen Philosophen“ ernennt, lässt erste Zweifel an historiografischer Sorgfalt aufkommen. Irritierend ist auch die teilweise schludrige Rezeption des Forschungsstandes sowie ein eigenwilliges, weil inkonsistentes Personenregister. Ärgerlich wird es indes, wenn Kraushaar mit der Präsentation von Flugschriften aus dem subkulturellen Milieu der linksradikalen „Underground“-Presse bzw. aus autobiografischen Testimonials stillschweigend den Eindruck erweckt, als seien diese Dokumente allesamt erstmals in einer wissenschaftlichen Untersuchung veröffentlicht worden.

Kraushaar wundert sich, dass die Ereignisse jener Wochen und Monate im Post- 68er-Diskurs bis heute nicht angemessen wahrgenommen worden seien. Und merkt nicht, dass er selbst die Motive für das Verdrängungsbegehren weiter Teile einer ehemals politisierten Studentengeneration liefert und verkörpert: Zu Recht begreift Kraushaar die Bombe im Jüdischen Gemeindehaus als „Konstituens“ des bewaffneten Kampfes linksradikaler Couleur; doch er reduziert seine Darstellung im Wesentlichen auf den auch im Kommunen-Alltag offen judenfeindlich agierenden Dieter Kunzelmann. Hier der bodenlose Schurke Kunzelmann und sein „Schuldabwehrantisemitismus“ samt mutmaßlichen arabischen Komplizen – dort jene verführten Antizionisten wie Albert Fichter und andere tragische Gestalten, degradiert zu kiffenden Nebenfiguren. Fichter selbst führt seine antijüdische Bombentat auf eine „Psychostresssituation“ zurück, tiefenpsychologisch aber auch auf die angeblich diskriminierende Behandlung durch einen „österreichischen Juden“ im israelischen Kibbuz – er wähnt sich als Opfer einer jüdischen Bespitzelungsaktion.

Peinliche Selbstentlastungsversuche dieser Art kommentiert Kraushaar nicht. Er geht noch einen Schritt weiter: In einem taz-Interview bekennt er, dass „bei militanten Linken unter dem breiten Schutz des Antifaschismus auch blanker Antisemitismus Platz hatte“ – doch nimmt er von dieser Erkenntnis die nicht terroristischen Segmente der Neuen Linken aus. Zwar streift er im Buch auch das „israelkritische“ und schließlich antizionistische Selbstverständnis des SDS sowie die hässliche „Kampagne“ gegen den israelischen Botschafter Asher Ben-Nathan; doch unterscheidet er zwischen der „nur“ ideologischen Ausrichtung der APO und der „politischen Praxis“ der „Stadtguerilla“. „Es ist nicht auszuschließen …“, so Kraushaars Wunschprojektion, dass die Bombe im Jüdischen Gemeindehaus den „Tupamaros Westberlin“ um Kunzelmann eine „Exkommunikation aus der Neuen Linken“ beschert haben könnte.

Fakt aber ist: Seit 1969 geronn der neudeutsche Antizionismus in Teilen der progressiven Linken zu einer hermetisch abgeriegelten Weltanschauung, weit über die von Kraushaar ins Visier genommenen gewaltbereiten Milieus hinaus. Zeitweise veröffentlichte der SDS die triumphalistischen Fatah-„Militärkommuniqués“ zu „erfolgreichen“ Terroraktionen in Israel. An einer PLO-Konferenz im Dezember 1969 in Algier nahmen illustre Figuren wie der damalige SDS-Vorsitzende Udo Knapp, der heutige Europa-Abgeordnete Daniel Cohn-Bendit und auch Joschka Fischer teil. Sicher ist, dass in den dortigen Reden der „Endsieg“ über Israel beschworen und eine Atmosphäre der Gewalt verbreitet wurde. Antiisraelische „Widerstandsgruppen“ und „Palästinakomitees“ sprossen wie Pilze aus dem Boden. Dutzende Initiativen agitierten gegen „US-Imperialismus und Weltzionismus“ und riefen zur Zerschlagung des „zionistischen Gebilde ‚Israel‘“ auf.

Gleichwohl scheut Kraushaar eine tiefergehende und womöglich schmerzhafte Selbstreflexion. Er weigert sich, die offensichtlichen Korrelationen zwischen neulinkem Antizionismus und traditionellem Antisemitismus als das zu bezeichnen, was sie waren und sind: ungeschminkte Manifestationen antisemitischer Obsessionen. Aus Furcht vor „Pauschalisierungen“ hält er Antisemitismus in der APO allenfalls im Modus des „Möglichen“ bzw. in Form eines „antisemitischen Latenzzusammenhanges“ für real. Doch es kommt noch ärger: In seinem Exkulpationsbegehren versteigt sich Kraushaar zu der These, nicht die Jüdische Gemeinde, sondern die aus Sicht der linksextremen Guerilla wankelmütige und potenziell reformistische Linke sei der „eigentliche“ Adressat des Terroranschlags im Jüdischen Gemeindehaus gewesen–eine schwer nachvollziehbare Gedankenakrobatik.

Weitere Fragen bleiben: Wann entschuldigt sich Albert Fichter bei der Jüdischen Gemeinde – jenseits einer lauen, von Selbstrechtfertigungen strotzenden „Lebensbeichte“? Fängt der „Verfassungsschutz“ nun endlich ohne Wenn und Aber an, seine historische Mitverantwortung für die Entfesselung des linksradikalen Terrorismus zu untersuchen? Was hat Tilman Fichter, den langjährigen Referenten des SPD-Parteivorstandes, bewogen, das Geheimnis seines jüngeren Bruders für sich zu behalten? Fragen, für deren Beantwortung sich auch die Berliner Justizbehörden interessieren müssten. Dass ihre Ermittlungsakten „verschollen“ sind, lässt Böses ahnen. Es gibt offenbar Kreise, denen eine Strafvereitelung noch immer gelegen käme.