Mann ohne Leidenschaften

Unreflektiert cool und brutal, aber auch witzig und schön komponiert: „Flammender Grund“, das Romandebüt des Schweizer Schriftstellers und Musikers Frank Heer

Amerika. Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Kein anderer Ort bietet mehr Projektionsfläche für einen Neuanfang. Vom Tellerwäscher zum Millionär, vom Goldgräber zum hingerichteten Verbrecher: Amerika hält alle Lebens- und Sterbeweisen bereit.

Der 39-jährige Deutschlehrer Viktor Scheichenwartz aus Frank Heers Romandebüt „Flammender Grund“ verlässt seine Heimatstadt Zürich Hals über Kopf und nimmt in Amerika teils absichtlich, teils zufällig eine Identität nach der anderen an. Er ist auf den Spuren seines Urgroßvaters, dessen Postkarte 92 Jahre verspätet in der Schweiz ankam. Eine solche Karte schreibt auch Viktor: „Liebe Eltern. Mir geht es gut. Wie geht es euch? Euer Sohn Viktor.“ Mehr fällt ihm nicht ein. Das ist seltsam. Denn mittlerweile ereilt ihn dasselbe Schicksal wie das seines Ahnen.

Zum Mörder ist er geworden. „Ich schoss nicht im Affekt“, gibt Viktor vor. Wir wissen es besser, denn außer Affekt und Lethargie treibt diesen Menschen nichts um. „Man könnte mich einen Mann ohne Leidenschaften nennen.“ Das trifft es schon eher. Obwohl, Perversität ist eine Art Leidenschaft. Und pervers ist Viktor, zumindest in seinen alkoholgeschuldeten Gedankenblasen.

Ansonsten ist er dauernd auf der Flucht, nicht nur vor der Schweizer und US-Polizei, sondern auch vor Gesprächen, großen Gefühlen und Problemen. Zudem ist der abgehalfterte Einzelgänger wahnsinnig eingebildet, schaut er auf Memmen und Heuchler hochnäsig herab. Nur eine seiner Identitäten fällt aus dem Rahmen seines apathischen Charakters. Er schlüpft in den weißen Anzug des erschossenen Entertainers Dick Cassidy und singt so göttlich, dass ihm die Frauen zu Füßen liegen, bis die Show wortwörtlich in seinen Drink platscht und man gar nicht mehr weiß, wie viel Wunschvorstellung der Wahrheit den Garaus macht.

Das sind die herausragenden Stellen des Romans. Heer arbeitet mit Erzählbrüchen, die manchmal mit kursiver Schrift gekennzeichnet sind, wenn die Geschichte in der Vergangenheit spielt. Meist bricht der Gedanke, das Bild oder die Handlung aber auch einfach mitten im Satz ab. Das ist bei den Stellen, an denen der Alkohol ein Wörtchen mitredet, so frappierend wie passend.

Man sollte beim Lesen die Tracks hören, die Frank Heer mit dem Elektroduo Bingo Palace zusammen als Soundtrack zum Buch komponierte und die zum Teil auf der Internetseite des Verlags heruntergeladen werden können. Die leichten, fast fröhlichen Klänge sind auch in dem Buch die wesentlichen. Die unreflektierte Coolness männlicher Brutalität, von der „Flammender Grund“ vordergründig handelt, hält dem Humor und der ausgefeilten Komposition glücklicherweise nicht stand. „Es war mein erster Überfall“, heißt es in wunderbar ironischer Lakonie zu Beginn des Romans. Bestimmt wird er auch nicht Heers letzter sein.

GUSTAV MECHLENBURG

Frank Heer: „Flammender Grund“. Roman, Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2005, 192 S., 17,95 €