Durch die Stadt, von Autos ungestört

Im norditalienischen Ferrara hat das Fahrrad immer Vorfahrt. Wohl dem, der hier das Tempo halten kann

AUS FERRARA MICHAEL BRAUN

Ferrara Stazione. Gewöhnlicher könnte der Bahnhofsvorplatz mit dem ebenso schmucklosen wie passenden Namen „Piazza Stazione“ nicht sein, die Reihe der Taxen, dahinter die Halteinseln der Busse, ein Zeitungsstand, eine Pizzabude. Drei Stunden vorher, bei der Abfahrt in Rom, das gleiche Bild, nur fünf oder sechs Nummern größer. Dann geht der Blick nach links, und plötzlich ist alles anders. Ein Meer von Fahrrädern steht da, dicht gepackt, „biciclette“ auf jedem freien Fleckchen des Bürgersteigs. In Rom käme keiner auf die wahnwitzige Idee, durch den Chaosverkehr zum Bahnhof zu radeln, deshalb gibt es gleich gar keine Fahrradständer am Bahnhof.

„In Ferrara tun es alle“, fasst dagegen der freundlich-schüchterne Zimmerwirt zusammen, der darauf bestanden hatte, mich mit dem Wagen am Bahnhof abzuholen. Er selbst sitzt normalerweise „bloß dienstlich“ am Steuer des Autos, „privat schwinge ich mich lieber aufs Rad“. Er grinst etwas herablassend. „Die paar Nur-Autofahrer hier, das ist die kleine Minderheit der eingefleischten Faulpelze. Vom Kleinkind bis zur 80-Jährigen treten alle in die Pedale.“ Auf die Frage, ob das nicht todesmutig ist, angesichts des forschen Fahrstils italienischer Autofahrer, die an Radlern gerne mit gerade zehn Zentimeter Abstand vorbeirauschen – da kann er nur herzhaft lachen. Mit einer Kopfbewegung weist er auf den durch einen Grünstreifen von der breiten Allee abgetrennte Fahrradweg. Gerade zuckelt da eine Omi dahin. „Die ist doch keine Heldin. In Rom oder Neapel würde ich mich auch nicht aufs Rad setzen. Aber hier riskiert man schier gar nichts.“

„In Ferrara tun es alle“

Am nächsten Kreisverkehr bremst er artig, hält vor der rostrot auf dem grauen Asphalt markierten Fahrradspur, wartet geduldig, bis drei, vier Radfahrer die Straße überquert haben. „Die haben nämlich immer Vorfahrt hier“, kommt die Erläuterung, viel wichtiger als die Regeln sei aber die Tatsache, dass jeder Autofahrer in Ferrara aus eigner Erfahrung die andere Perspektive kenne. „Auswärtige am Steuer erkennen Sie sofort. Erst fahren sie rüde – aber dann sind sie total verunsichert, weil sie begreifen, dass bei uns die Radler die absolute Vorherrschaft haben.“

Das mit der Vorherrschaft ist nicht nur so dahingesagt. Als wir an der Porta degli Angeli, am „Engelstor“, den mächtigen Festungswall aus roten Ziegeln passieren, der die gesamte Innenstadt umschließt, erlaubt ein Schild die Weiterfahrt nur für „Autorizzati e cicli“ – für die Inhaber einer Genehmigung und für Fahrräder. Fünf Minuten später gehöre auch ich zu den Privilegierten, radle den Corso Ercole I. d’Este runter. Schnurgerade führt der Corso vom Engelstor hin zum Mittelpunkt Ferraras, zu der mächtigen Wasserburg, und gepflastert ist er noch genauso wie vor 500 Jahren, als das Geschlecht der Este die Straße anlegte: mit dicken runden Kieseln, deren Farbe zwischen rötlich-braun und grau changiert. Entsprechend holprig verläuft die Fahrt vorbei an den Backstein-Palazzi aus der Renaissance und ihren prächtigen Gärten. Doch nicht nur deshalb wird die Radtour zur Fahrt in eine andre Zeit. Unwirkliche Stille herrscht an diesem Sommer-Wochentag auf dem Corso, im Zentrum einer Stadt mit immerhin 130.000 Einwohnern. Kein Motorenlärm, kein Hupen, nur Vogelgezwitscher – und das Klappern von Schutzblechen.

Radfahrer unter sich, und gefahren wird, wie’s gefällt. Ich halte mich brav rechts, während eine pummelige Frau für sich den Linksverkehr eingeführt hat und in der Straßenmitte ein älterer Herr in grauem Anzug an uns vorbeizieht. Aber auch die beiden schmalen Bürgersteige gehören den Radfahrern. Die aus der Gegenrichtung halten es genauso. Wo sich Wege kreuzen, wird völlig unaufgeregt ausgewichen oder angehalten – Klingeln gilt in Ferrara offenbar als unfein. Erst direkt vor der Wasserburg kreuzt die erste „richtige“ Straße mit regem Autoverkehr, und an der roten Ampel findet binnen einer Minute sofort ein Pulk von Dutzenden Radfahrern zusammen. Gleich auf der anderen Seite geht es über die Zugbrücke rein in die Burg, durch den Hof, zum andren Tor hinaus, und im Gedränge zwischen Radlern und Fußgängern muss ich feststellen, dass ich als ungeübter Nicht-Ferrarese das Tempo nicht halten kann. Nicht dass ich zu langsam wäre – ich bin nicht langsam genug. Die vor mir müssten eigentlich fast vom Rad fallen, so gemächlich schleichen sie. Doch sie halten perfekt die Spur, leisten Zentimeterarbeit, ohne je einen der Fußgänger zu touchieren, und das trotz schwerer Einkaufstüten am Lenker, trotz angeregter Handy-Telefonate, trotz Baby im Kindersitz. Ich dagegen schlingere gefährlich, obwohl ich beide Hände fest am Lenker habe, und muss mich alle paar Meter mit dem Fuß abstützen.

Links rüber, auf der Piazza vor der weißen Kathedrale, bietet sich eine Szene, wie man sie auch in Bologna auf der Piazza Maggiore besichtigen könnte: Hunderte Männer, fast durch die Bank Rentner, haben sich zum täglichen Polit-Talk eingefunden. Anders als in Bologna ist in Ferrara vor dem Dom aber jeder, wirklich jeder, an sein Fahrrad gelehnt. Eine Dreierrunde, Durchschnittsalter 70, schimpft gerade auf die Regierung in Rom, „wie jeden Tag“. Die Ferraresen, geben die Herren dann eine kleine historische Lektion, hätten immer schon auf dem Fahrrad gesessen. „Als westlich von hier in der Emilia, um Bologna rum, in den Fünfzigern das Wirtschaftswunder losging“, erklärt einer der drei, „und als im Osten in der Romagna mit dem Tourismus schon richtig Geld verdient wurde, waren wir nicht dabei.“ Ferrara, das sei halt der Bindestrich in der Emilia-Romagna, eine Welt für sich, etwas langsamer, phlegmatischer, gemütlicher. „Alle hatten schon Autos, und wir waren die armen Schweine, wir saßen noch auf dem Fahrrad. Heute beneiden sie uns um unsere Fahrradstadt.“ Unverzichtbar sei das Rad für alle hier, „aber meistens kein Fetisch, kein Kultgegenstand“. Ein Blick über den Platz bestätigt die Behauptung. Das Modell „Rostlaube“ dominiert. Selbst Jugendliche haben ganz selten mal teure Mountainbikes oder herausgeputzte Rennräder.

Gleich gegenüber, in einem weiteren Palazzo der Este, ist das Rathaus. Die große Freitreppe und die sich hoch öffnende weite Eingangshalle künden von vergangener Größe der Stadt, die nüchternen Flure von moderner Verwaltungsarbeit. Der Umweltdezernent Alessandro Bratti empfängt nicht im für Italien üblichen Dezernenten-Look – gedeckter Anzug und Krawatte –, sondern in Polohemd und Jeans. Sofort breitet er Karten aus, mit den für Autos komplett gesperrten Bezirken, gut ein Drittel der Innenstadt, mit den Radwegen, an die 100 Kilometer. Dann erklärt er mit Eifer die Philosophie der Stadtverwaltung. Auch Ferrara sei heute durchmotorisiert, mit 500 Autos pro 1.000 Einwohner. Aber man könne die Bürger dazu bringen, den Wagen stehen zu lassen. Zwischen 30 und 35 Prozent aller Wege werden in Ferrara mit dem Fahrrad zurückgelegt. Rechnet man noch Fußgänger plus Busnutzer dazu, kommt die Stadt auf 65 Prozent „nachhaltiger Mobilität“, wie das im Umwelt-Expertensprech heißt. „Radfahrer dürfen bei uns alles, und das müssen Sie wörtlich nehmen, nicht bloß, weil sie den Fußgängern in den abgesperrten Zonen gleichgestellt sind“, sagt Bratti.

Wie man hier darauf kam, sich zur Fahrradstadt zu machen, weiß der Dezernent gar nicht genau – an einen Autokollaps kann er sich jedenfalls nicht erinnern. Dafür an den Kommandanten der Stadtpolizei, der vor einigen Jahren von auswärts nach Ferrara kam. „Den störte die Disziplinlosigkeit unserer Radfahrer, die einfach Kreuzungen schneiden, über rote Ampeln radeln, über Gehwege, und er fing an, Strafzettel verteilen zu lassen.“ Nicht lange: Kurz darauf wurde der eifrige Polizeichef ins Rathaus einbestellt. „Wir haben dem gesagt: Knöllchen für Radfahrer kommen überhaupt nicht in Frage, nicht in Ferrara.“ Lieber die Mofas und Motorräder dagegen solle er energisch bekämpfen – sie dürfen in die verkehrsberuhigten Zonen nirgends rein.

Das Dienstrad bleibt daheim

Auf die Frage nach seinem Dienstfahrrad lächelt Bratti. Ein schöner PR-Gag sei das gewesen, 1999, die feierliche Spende von Diensträdern an den Bürgermeister und alle Dezernenten durch den Verband der italienischen Radindustrie, mit dem Stardirigenten – und Ferrareser Radfahrer – Claudio Abbado als Stargast. „Aber ich nehme mein Dienstrad nie.“ Bratti bemerkt das Stutzen des Nachfragenden und setzt sofort nach, „ich komme weiter mit dem eignen Rad, genauso wie der Bürgermeister.“ Nur ein Problem fällt ihm ein in der Verkehrspolitik der Stadt – der Fahrradklau. „Mir selbst sind in gut 15 Jahren neun Räder gestohlen worden. Unsere Stadt erinnert mich sehr an Holland. Das platte Land des Po-Deltas, die vielen Kanäle, die Radfahrer überall – und eben auch eine Dichte von Fahrraddieben wie in Amsterdam.“ Große Parkplätze am Stadtrand, wo man problemlos den Wagen stehen lassen und aufs Rad umsteigen kann, Fahrradspuren aus den Außenbezirken ins Zentrum, dazu die Schikanen gegen Motorisierte – das seien die Waffen gewesen, um Ferrara zur Fahrradstadt zu machen.

Und mittlerweile auch zur Fahrradprovinz. Mit Nazarena, einer schlanken Dame in mittlerem Alter, die erkennbar gut in Form ist, radle ich raus aus dem Zentrum. Zuerst sind wir auf der Krone der Befestigungsmauern unterwegs. Bis vor zehn Jahren seien die Befestigungsanlagen noch alle zugewuchert gewesen, dann legte die Stadt auf der gesamten Länge von neun Kilometern oben den Radweg an, erzählt Nazarena. Im Schatten weit ausladender Laubbäume radeln wir im entspannten Ferrara-Tempo über den breiten Kiesweg. Dann geht es runter, links ab auf die Fahrradspur einer der Ausfallstraßen, und nach ein paar Kilometern Großstadtperipherie mit Fertigungshallen und Einkaufscentern sind wir an der Burana, einem Po-Seitenkanal, der träge und dunkelgrün dahinfließt. An seiner Seite: eine endlose Pappelallee. Nazarena schüttelt den Kopf. „Die sollte vor ein paar Jahren abgeholzt werden, für die Papierproduktion, da hat die Provinzverwaltung einfach den kompletten Pappelbestand aufgekauft.“ Und einen Radweg angelegt, der, den Kanal auf der einen, die Gemüsefelder auf der anderen Seite, bis zur Po-Mündung verläuft. 500 Kilometer Wegenetz seien es mittlerweile in der Provinz, 1.000 sollen es noch werden. Auf der Deichkrone des Po angekommen, haben wir den mächtigen breiten Strom zu unseren Füßen, und wenn wir wollten, könnten wir jetzt bis zum Meer radeln, von Autos ungestört.