Heute sind wir anders jung

Endlich im Zeugenschutzprogramm. Ein Brief an Harry Potter – geschrieben von einer jungen Autorin, einer Bewohnerin des Geisterhauses des deutschen Fräuleinwunders

Lieber Harry, in der letzten Zeit hatten wir es uns so sehr gewünscht, und nun ist Dein Zauber endlich wirksam geworden. Wir sind im Zeugenschutzprogramm. Der Ort unserer Ausbildung bleibt geheim. Vor kurzem sah ich zwei ehemalige Kommilitonen und zwei jetzige Studenten vom Geisterhaus im Fernsehen. Sie nahmen am wichtigen Ingeborg-Bachmann-Preis-Wettlesen in Klagenfurt teil. Alle vier standen in der Endrunde noch zur Auswahl, und einer von ihnen bekam auch den Publikumspreis, aber das nur nebenbei. Endlich werden wir geschützt. Bei keinem der vier fiel das Wort, ich sag es jetzt – erschrick nicht, Harry! – Literaturinstitut.

Lieber Harry, seitdem der Geist Hermann unter uns weilt, sind Frühstücke bei Tiffany Schnee von gestern. Die Zeit, in der wie von Geisterhand „Die Räuber“ oder „Buddenbrooks“ im Alter von 26 Jahren verfasst wurden, sind vorbei. Heute sind wir anders jung. Wir erleben nichts und schreiben fortwährend belangloses Zeug. Unser Ton hat nichts mehr vom Geheimnis eines Schlossgespenstes aus dem 18. Jahrhundert oder von der Dringlichkeit der Kriegsgeister. Unser Ton ist kühl und knapp und langweilig. Wir haben nichts zu sagen. Unser Geisterleben läuft rund; Schule, Elternhaus, Schreibschule. Mach Dir keine Sorgen Harry, all das ist Lüge und Teil des Zeugenschutzprogramms. Wir leben! Ja, und wir sind, nach wie vor, von den Toten auferstanden. Wir bringen die Rezensenten durcheinander – sie können die Menschen nicht mehr von uns Geistern auseinander halten. Sie denken, Silke Scheuermann ist eine von uns. Und sie denken, Juli Zeh ist keine von uns. Und sie denken, die Geister, das sind junge deutsche Fräuleins. Aber Harry, lies mal das Buch des dänischstämmigen Autors Arne Nielsen: „Donny hat ein neues Auto und fährt etwas zu schnell“. Du wirst sehen, der Zeitgeist ist kein junges deutsches, ziellos umherfahrendes Fräulein.

Geisterhäuser wie unseres gibt es überall, von Kopenhagen bis über den Atlantik, aber woanders haben sie es noch nicht ins Zeugenschutzprogramm geschafft. Mein lieber Cousin, vom Fortschritt eines Schutzprogramms seid ihr noch weit entfernt. Ich bedaure, dass ihr nicht für euch selbst zaubern könnt. Sag, kann man das Zaubern eigentlich lernen? Oder das Schauspielen, jetzt, da du auch im Film zu sehen bist?

Es grüßt deine schreibende Cousine ARIANE GRUNDIES

Ariane Grundies, geboren 1979 in Stralsund, ist Schriftstellerin. Zuletzt erschien von ihr bei Piper der Erzählband „Schön sind immer die anderen“