Wo man Glamour wollte und Gediegenheit bekam

Kino der Kindheit (1): Trauriges Wiedersehen mit dem „Cinema“ von Calw, wohin sich heute trotz Umbau fast niemand mehr verirrt

Immer, wenn unsere alljährliche Familienfeier in einer Kleinstadt im nördlichen Schwarzwald ansteht, führt mein Weg vorbei am Cinema, dem einzigen Kino vor Ort. Die altmodischere Bezeichnung Filmtheater trifft es genauer, da das Gebäude und seine Inneneinrichtung noch genauso aussehen wie in den Fünfzigerjahren, als man Glamour wollte und Gediegenheit dabei herauskam: das Kassenhäuschen mit Glas- und Messingfront, rote Teppiche, im Kinosaal ein in Falten geschwungener Vorhang an der Wand. Einige hundert Zuschauer fasst dieser Raum auch heute noch, nachdem die alte Bestuhlung längst herausgerissen und an die Bevölkerung verscherbelt worden ist. Weil der Saal ohnehin nicht mehr voll zu kriegen ist, sind die neuen Sitzreihen weiter auseinander gerückt worden. Ich kenne kein anderes Kino mit so viel Beinfreiheit. Alle anderen Kinos in der Umgebung sind popelige Schachtelkinos mit Knieschmerz-Garantie, im Cinema hat man um sich herum genügend Stellplatz für ganze Wochenrationen an Popcorn.

Ende der Siebziger habe ich dort meinen allerersten Kinofilm gesehen, das „Dschungelbuch“ in der Zeichentrickversion von Disney. Gerade hatten mein Bruder, ich und unsere Kusinen noch um die Reste eines Geburtstagskuchens gesessen, als meine Mutter rief: „Jetzt lade ich euch alle ins Kino ein!“ und uns umstandslos in Auto packte. Vermutlich waren wir Kinder genau der Vorwand, den sie brauchte, um den Film selbst ansehen zu können. Die Schlange vor der Kinokasse reichte bis zur Straße, was bedeutet, sie führte vom Kassenhäuschen quer durch den Kassenraum über eine Freitreppe und einen geräumigen Vorplatz, weiter über noch eine Treppe bis ganz hinunter, wo wir uns dann anstellen durften. So viele Leute wollten mit uns den Film sehen, dass wir auf den Stufen Platz nehmen mussten, weil der Saal ausverkauft war. Drinnen war es stockdunkel, ich saß unbequem, alles war großartig.

Solch goldenen Besucherzahlen hat dieses Kino später, als in den Achtzigern die ersten Videotheken eröffneten, vermutlich nie wieder gesehen. Auch die Spätvorstellungen von Samstag nachts, die Titel trugen wie „Emmanuelle“ oder „Willige Teenager“, und zu denen es in den Schaukästen keine Plakate und Aushänge gab, fielen plötzlich aus. Der einzige andere Filmbesuch aus dieser Zeit, an den ich deutliche Erinnerungen habe, war „E.T.“. Die abgerissene Einlasskarte klebt in meinem Tagebuch, eine sentimentale Trophäe unter einer ziemlich ungefilterten Darstellung meiner Emotionen während und nach der Vorführung. Meine erste Filmkritik, die auf ewig unter Verschluss bleiben wird.

In der Zeitung stand zu lesen, dass eine Lady Di, die für mich vor allem diese Frau war, die im Jahr zuvor diese aufwändige Hochzeit gefeiert hatte, den Film auch gesehen haben soll und ihn angeblich so sehr mochte, dass ihr die Tränen kamen. Ich weiß noch, wie ich mich gewundert habe, dass Prinzessinnen auch ins Kino gehen, um dort in ihr Taschentuch zu weinen, und dass ausgerechnet in diesem Moment ein Journalist neben ihnen sitzt, der alles sieht und aufschreibt.

Noch zu meinen Schulzeiten musste das Cinema mangels Publikum dichtmachen und verfiel in einen Prinzessinnenschlaf. Der größte Bereich des baulichen Ensembles, von dem das Kino ein Teil ist, ist mittlerweile ziemlich marode und darf nicht mehr betreten werden. Irgendwann war das Ganze mal ein ausladender Vergnügungsort, mit einem Volkstheater, Kneipen, Tanzböden. Heute wächst Gras kniehoch zwischen den Steinplatten. Eine Kinokette hat vor ein paar Jahren den Betrieb übernommen, jetzt nennt man sich Neues Cinema, aber zum Glück ist außer der Popcorn-Maschine nichts Neues hinzugekommen. Auch in den Sound wurde nur minimal investiert. Während man sich überall sonst an Surround-Systeme gewöhnt hat, die einem mit maximalem Lautstärkepegel die Tonspur um die Ohren hauen, sitzt man hier im Kinostuhl und wundert sich über eine völlig neue Kinoerfahrung. Im „Krieg der Welten“, den ich mir zum Ausgleich meiner „E.T.“-Erinnerung dort ansehen musste, haben die bösen Außerirdischen praktisch lautlos ganze Häuser zerrissen.

Höchstens ein Dutzend Zuschauer hatten sich in die Nachmittagsvorstellung verirrt, darunter zwei Teenager, die nicht bezahlen mussten, weil ihre Kumpel sie an der Ausgangstür hereingelassen hatten. Als der Film zu Ende und die Menschheit wieder einmal mit dem Schrecken davongekommen war, öffneten wir die Türen, die ohne Zwischengang unvermittelt ins Freie führten. Draußen ging gerade eine warme Abendsonne unter, die Sonne schien direkt in den Kinosaal und auf die Leinwand, auf der alles wieder leer und friedlich aussah.

DIETMAR KAMMERER