Wie Pech und Schwefel

Lauter Spielwütige und die geballte Faust der Tradition: Eine Reportage über den Passionsspielort Oberammergau, wo am Freitag nach hundert Jahren Pause „König David“ aufgeführt wird

VON SABINE LEUCHT

Zum Beispiel im Jahr 2000, da lief man durch Oberammergau mit dem Gefühl, Woodstock habe in einer oberbayerischen Enklave bis heute überdauert: Ungebändigte Bärte und Locken allenthalben, langhaarige Kinder am Bordsteinrand. Allerdings mit Gameboy-Spielen und Alpenpanorama im Hintergrund. Ein ganzes Dorf im Ausnahmezustand, der hier aber Tradition hat! Wenn jedes zehnte Jahr Schlag Aschermittwoch an die Bevölkerung die Aufforderung ergeht, ab sofort Friseure zu meiden, betrifft das rund 2.000 Menschen, die im Folgejahr bei der Wiederbelebung der Geschichte von Jesu Leben und Tod dabei sein wollen. Das ist fast die Hälfte aller Oberammergauer, vom Baby bis zum Greis. Um 1960 herum, lacht der Regisseur Christian Stückl, muss das eigenartig gewesen sein: „Da lässt man sich aus Protest die Haare wachsen, und dann sehen der Papa und der Opa genauso aus.“

Der Passionsspielleiter der Jahre 1990 und 2000 selbst ist eigentlich immer lustig gelockt. Warum der Oberammergauer auch als Intendant des Münchner Volkstheaters nicht von „seinen“ Dörflern lassen kann, versteht sofort, wer einmal die Begeisterung erlebt hat und die Engelsgeduld, mit der hier Menschen quer durch alle Berufe eine Menge Freizeit an die gemeinsame Leidenschaft verschenken. „Das sind doch Laien“, sagten ihm heute viele aus dem Profi-Lager. „Aus denen kriegst’ doch nix raus.“ „Nein“, sagt Stückl da nur: „Das sind die, mit denen ich ins Theater hineingewachsen bin.“

Im Augenblick versucht er sich an einem Novum – ganz ohne Haarschneideerlass und mit einem Minimum an Vorbereitungszeit. Während die Oberammergauer „Passion“ auf ein Pestgelübde im Jahr 1634 zurückgeht, gab es das alttestamentarische Spiel vom „König David“ bislang erst einmal: In der so genannten Kreuzschule 1905. Jeder dreizehnte der 5.300 Oberammergauer wird als Schauspieler oder Musiker dabei sein, wenn am Freitag die Benefizpremiere zugunsten der Flutopfer in Asien beginnt. Optik und Akustik (Musik: Markus Zwink) sind fast wie gewohnt, sogar die Kostüme sind aus denselben Leinen und farbenfrohen indischen Stoffen wie in der letzten Passion. Nur die Massenszenen werden bei zirka 430 Mitwirkenden nicht ganz so überwältigend sein. Und während den ersten Satz der Passionsgeschichte jedes Kind herbeten kann, ist der „David“ für alle neu.

Bei den Proben auf der Freilichtbühne fragen noch eine Woche vor der Premiere Kinder ihre Eltern nach Details. Max weiß immerhin, dass David den Goliath besiegt und dann König der Juden wird. Mit seinen neun Jahren steht er bereits zum vierten Mal auf der Bühne: Als Vierjähriger „beim Passion, dann bei Aida und jetzt. Und bei der Zauberflöte“. „Der Passion“, das scheint in diesem musischen Dorf, wo alle einander kennen, nur ein weiteres (männliches) Familienmitglied. Ein seit langem hoch geschätztes zudem. Christian Stückl hat das zu spüren bekommen, als er 1987 als jüngster Spielleiter aller Zeiten vor das Dorf getreten war mit den Worten: „Horcht zu: Ich erklär’ euch jetzt, wie’s geht. ‚Was, du willst uns den Passion erklären?‘“ 353 Jahre Geschichte hatten sich da gegen den Neuling zur Faust geballt.

Während beim „David“ nur ein alttestamentarischer Fachmann beleidigt sein soll, weil er nicht zur Sache gehört worden ist, schlägt im Vorfeld beinahe jeder Passion die Empörung ihre Wogen. Auch das hat Tradition in Oberammergau, sagt Christian Stückls eindrucksvoll in sich ruhender Vater Peter, der 1950 als Siebenjähriger seinen Passionsspieleinstand gefeiert hat und heute Davids Widersacher König Saul spielt: „Bei uns streitet man zuerst, und wenn’s so weit ist, hält alles wie Pech und Schwefel zusammen.“

„Die Konservativen“, erklärt Carsten Lück, unter dessen Anleitung gerade die Treppe zu Sauls Palast entsteht, „sehen das Passionstheater immer noch als Kirche.“ Und während Kinder nur im Dorf zur Schule gehen müssen, um dabei sein zu dürfen, Erwachsene aber seit zwanzig Jahren ortsansässig, hätte er als „Zugroaster“ und Protestant vor fünf Jahren ums Haar die Rolle des Judas nicht bekommen. Da kommt der Spielleiter noch immer schwer gegen den Gemeinderat an – das Gremium, welches einen Oberammergauer offiziell „zum Jesus, zum Christus, zur Maria macht“. Und, so Carsten Lück, „die Konservativen sind im Gemeinderat fifty-fifty mit den anderen Parteien, wobei unter den ‚anderen‘ auch die CSU ist.“ Aber hoppla!

Lück, der sonst meist bei der Bavaria Kulissen baut und gleich als Davids Bruder Eliab zur Probe eilen wird, ist redlich bemüht, das schmucke Dorf der Holzschnitzer, in dem selbst Hausfassaden handgemalte Geschichten erzählen, nicht als klebrige Idylle erscheinen zu lassen. Und doch ist auch er ein Begeisterter, ein Passionierter im doppelten Sinn des Wortes. Von den Schneiderinnen bis zum renommierten Ausstatter Stefan Hageneier bekommen die Mitwirkenden kein Geld für monatelange Proben und mehr als hundert ganztägige Vorstellungen von Mai bis Oktober, brachten aber in der Vergangenheit bei 500.000 Zuschauern jedes zehnte Jahr an die 50 Millionen Mark in die Gemeindekasse. Dazu beizutragen, das war von 1880 bis 1990 den verheirateten und über 35-jährigen Frauen verboten. Bis einige von ihnen für ihr Recht aufs Mitspielen vor’s Oberlandesgericht zogen. Und gewannen.

Die Oma von Vitus Norz stand bei diesem Streit „an vorderster Front“ und schüttelt wie Peter Stückl zuvor mal eben die großen Daten ihrer Familie aus dem Ärmel: Urgroßvater als Johannes der Täufer (1860 und 70), dann Judas, 1910 die Großtante als Maria, sie selbst hat die Magdalena gespielt. Ihr Sohn Martin war in den letzten beiden Passionen Jesus himself. Und Vitus ist erst fünf und gerade recht hibbelig. „Der will wieder auf die Bühne“, heißt es da nur. Oberammergau eben.