Sommerbeine, später

Schenkel, Fußgelenke, Knie, Waden: Obsessiv ist der tschechische Künstler Miroslav Tichý ihnen nachgejagt und hat sie fotografiert. Anerkannt wurde er nie, er musste ins Gefängnis und in die Psychiatrie. Zwei Ausstellungen bei Arndt & Partner in Berlin und im Kunsthaus Zürich zeigen nun sein Werk

Der Sommer war seine Zeit. Wenn die Stoffe dünner werden und die Wärme die Menschen nach draußen zieht. Dann wird der Blick frei auf Knie und Fesseln, Waden und Schenkel. Miroslav Tichý hat sie hundertfach, ach was, wahrscheinlich tausendfach fotografiert, fast immer heimlich und oft mit selbst gebauten Fotoapparaten: Schenkel, die zwischen Rocksaum und Kniestrumpf hervorschauen, neben sich schaukelnd die schwere Einkaufstasche. Die aufgestellten Knie von im Gras Liegenden. Fußgelenke in hohen und flachen Schuhen. Sportplätze, Parks, Schwimmbäder, Hauseingänge, Einkaufswege waren sein Revier auf der Suche nach dem Blick auf Mädchen und Frauen.

Die obsessive, die voyeuristische Fixierung auf Frauenkörper ist das Erste, was auffällt an den kleinen, unscharfen Fotografien von Miroslav Tichý, die in Berlin in der Galerie Arndt & Partner ausgestellt sind und ab 15. Juli das erste Mal in einem Museum, dem Kunsthaus Zürich, präsentiert werden. Es ist ein erotischer Hunger, der auch die Betrachter recht unruhig von Bild zu Bild weitertreibt. Dann wird diese Unruhe selbst zum Thema, das unermüdliche Unterwegssein des Fotografen, seine Wanderungen durch die Stadt. Wie er den Raum durchpflügt auf der Suche nach diesen ganz speziellen Details. In Bewegung sind auch viele seiner Modelle, er fischt sie aus dem Strom der Passanten, blickt den rennenden Sportlerinnen im Park nach, den Radfahrerinnen und Spaziergängerinnen.

Und dann allmählich drängt sich das Heimliche der Beobachtung in den Vordergrund, das Flaumige der unscharfen und verwischten Oberfläche, die Bildausschnitte, die oft den Körper anschneiden. Wie sie entwickelt sind, oft mit Kratzspuren, Fehlstellen, Fingerabdrücken und Dreckflecken, verstärkt den Eindruck des Fahrigen. Manche der Fotos haben abgerissene Ränder, die meisten sind auf farbige Papiere und Kartons montiert, oft mit Kugelschreiber umrahmt. Einmal liest man „darkroom“ über dem Bild und denkt an die Räume anonymer sexueller Kontakte, aber tatsächlich ist es nur der englischsprachige Aufdruck für „nur in der Dunkelkammer zu öffnen“ auf dem Karton des Fotopapiers, den Tichý für das Passepartout benutzt hat. Darkrooms gab es zu der Zeit seiner Fotojagden, Ende der Fünfziger- bis Mitte der Achtzigerjahre, in der Tschechoslowakei vermutlich nicht.

Tichýs Fotografien wirken wie das Werk eines Autodidakten. Aber das war er nicht. Er hatte Kunst studiert und folgte als Maler den Spuren des Kubismus, bevor er, abgestoßen von Bildvorstellungen des sozialistischen Realismus, einen sehr eigenen und eigenwilligen Weg einschlug. Was man über Tichý weiß, weiß man durch seinen ehemaligen Nachbarn Roman Buxbaum, selbst Künstler und “)Psychiater, der Tichý überhaupt zur Ausstellung seiner Bilder bewegen konnte. Er hat auch einen schönen Dokumentarfilm über Tichý gemacht, der die Ausstellungen in Zürich und Berlin begleitet.

Struppig sieht er aus und grantig. Sieht man ihn durch seine voll gestopfte Behausung wuseln, in die Büsche pinkeln und Stapel seiner Fotos sorglos über den Küchentisch schmeißend, glaubt man sofort, dass dieser Außenseiter kein Interesse am Erfolg im Kunstbetrieb hat. Er wurde in seinem Leben vielfach für diese Verweigerung des Ordentlichen abgestraft, mit Verwahrungen in der Psychiatrie, mit Gefängnis, mit Atelier-Enteignung. Die Verwahrlosung, die er äußerlich abstrahlt, die soziale Isolation, in der er lebt, muss man nicht romantisch als Widerstand verklären. Dennoch ist klar, dass sie die Besonderheit seines Blicks geprägt hat, die Entfernung gesteigert zu den Objekten seines Verlangens: eine Entfernung, die er eben nur noch mit der Kamera und nicht mehr als Person überbrücken konnte.

Das Aufregende seiner Bilder liegt aber nicht nur in ihrer poetischen und sehnsuchtsvollen Qualität begründet, sondern auch darin, dass ihre Heimlichkeit über eine persönliche Besessenheit hinausgeht. Versteckt zu fotografieren, Bilder zu horten, die niemand sehen darf, Kunst fast als illegale Aktion zu betreiben: Das war auch ein bewusstes Nein gegenüber der Kontrolle des öffentlichen Raums und der öffentlichen Bilder. So ist es doch ein Akt der Subversion gegen den Kunstbetrieb und seine Definitionsmacht.

Vor einem Jahr wurde Tichý von Harald Szeemann auf der Biennale Sevilla das erste Mal größer vorgestellt. Die heutige Begeisterung über seine kleinen mitgenommenen Bilder, die viele Spuren des Abgegrabbelten und der sorglosen Aufbewahrung tragen, entsteht auch im Verhältnis zu einer Bildproduktion, die den Blick auf schöne, verführerische Körper überall zur Verfügung stellt. In Hochglanz, in großen Formaten, ohne mühsame Jagd nach den Modellen. Da steht außer Frage, dass es möglich ist, die Erotik ins Bild zu bannen und zu steigern.

Für Tichý, der inzwischen alt und nicht zuletzt durch Alkohol wackelig geworden ist und das Fotografieren schon vor zwanzig Jahren eingestellt hat, blieb das Unternehmen, Wirklichkeit festhalten zu wollen, aber stets ein zweifelhaftes. Die Nachlässigkeit, mit der er seine Bilder behandelte, lässt sie ein wenig leiden für dieses verwegene Anliegen. Letzten Endes siegt der Verfall. Tichýs Bilder sind nicht für die Ewigkeit gemacht.

KATRIN BETTINA MÜLLER

Galerie Arndt & Partner, Berlin, bis 8. August. Bis zum 18. September im Kunsthaus Zürich. Dort erscheint auch ein Katalog