Iraks schwere Suche nach der Wahrheit

Eine neue Studie gibt die Zahl der zivilen Opfer von Gewalt im Irak zwischen März 2003 und März 2005 mit 24.865 an. Aber wie schon andere Studien zu den Todeszahlen im Irak leidet diese unter selektiver Wahrnehmung und ungenauen Basisdaten

Die drei kurdischen Provinzen im Nordirak fehlen in der Erhebung ganz

AUS ERBIL INGA ROGG

Der Krieg im Irak hat seit März 2003 unter den Koalitionstruppen mehr als 1.800 Tote und mehr als 13.000 Verletzte gefordert. Aber wie hoch ist die Zahl der Opfer auf irakischer Seite? Verschiedene Untersuchungen haben versucht, darauf eine Antwort zu geben. Da bislang weder die irakischen Behörden noch die Koalitionstruppen umfassende Angaben über die irakischen Opfer gemacht haben, beruhen sie allesamt auf Schätzungen. Diese reichen von 10.000 bis 100.000. Allein diese Bandbreite macht deutlich, wie schwierig es ist, Licht ins Dunkel der Gewalt zu bringen.

Die britische Nichtregierungsorgnisation Iraq Body Count (IBC) will diese Lücke mit einer am Dienstag veröffentlichen Studie schließen (A Dossier on Civilian Casualties in Iraq, 2003–2005, www.iraqbodycount.org ). Beinahe 25.000 Zivilisten wurden demnach in den ersten zwei Jahren seit Kriegsbeginn getötet, unter ihnen knapp 5.000 Frauen und Kinder. Mit gut 37 Prozent lasten die Wissenschaftler und Friedensaktivisten mehr als ein Drittel der Opfer den US-Truppen an. 9.270 Zivilisten seien durch die Bombardements in den ersten Kriegswochen getötet worden. Den zweiten Platz nimmt die Kriminalität ein, die das Zweistromland seit dem Sturz des Saddam-Regimes heimsucht. Bewaffneten Banden und Mördern fielen demnach 8.935 von insgesamt 24.865 Personen zum Opfer.

Mit nur 9 Prozent oder 2.353 Toten werden die Todesopfer beziffert, die auf Konto von Untergrundkämpfern gehen, die IBC als „Antibesatzungs-Truppen“ bezeichnet. In weiteren 2.731 Fällen, in denen die Angriffe nicht militärischen Zielen galten, macht IBC „unbekannte Täter“ verantwortlich.

Ob damit Terroranschläge gemeint sind, deren Täter nicht bekannt sind, lässt die Studie offen. Darüber hinaus macht die Unterscheidung nach Angriffszielen nicht deutlich, dass die Untergrundkämpfer im Irak bei ihren Attacken zivile Opfer zumindest billigend in Kauf nehmen.

Wie bei den Todesopfern schreiben die Autoren der Studie auch ein Großteil der Verletzten den Koalitionstruppen zu. Mindestens 21.000 von 42.500 Verletzungen wurden demnach durch US-Soldaten verursacht. Selbst nach dem 1. Mai 2003, als Präsident George Bush das offizielle Kriegsende erklärte, seien es 41 Prozent, heißt es in dem Bericht. Die meisten wurden durch nicht explodierte Sprengsätze wie Splitterbomben verursacht, wobei besonders viele Kinder betroffen sind.

Die Erhebung von IBC zeigt, dass die Zahl der neuen Opfer seit 2004 stetig angestiegen ist. Dabei bietet IBC erstmals einen Blick in die verschiedenen Regionen des Irak. So haben die Angriffe der US-Amerikaner auf die sunnitische Untergrundhochburg Falludscha und die darauf folgenden Kämpfe mehr als 1.800 Todesopfer gefordert. Diese Zahl steht in eklatantem Widerspruch zur US-amerikanischen Behauptung, bei ihren Angriffen die Zivilbevölkerung möglichst geschont zu haben.

Mit mehr als 45 Prozent haben die über 5 Millionen Bewohner von Bagdad die meisten Opfer zu beklagen. Ingesamt ergibt sich ein starkes Nord-Süd-Gefälle. Mehr als die Hälfte der Opfer haben die südlichen, überwiegend schiitischen Provinzen zu verzeichnen. Warum in der Erhebung die drei kurdisch regierten Provinzen im Norden ganz fehlen, erklären die Autoren aber nicht.

Zweifelsohne liefert IBC erstmals ein genaueres Bild über die Opfer wie auch Täter im Irak und darüber, welche Waffen in dem Krieg eingesetzt werden. Der Leser erfährt teilweise Namen, Beruf, Geschlecht und Alter der Getöteten. Insofern ist die Studie sicher genauer als der im vergangenen Herbst veröffentlichte Bericht der angesehenen britischen Medizinzeitschrift Lancet. Dieser in Zusammenarbeit zwischen der Bagdader Mustanseriya-Universität und zwei US-amerikanischen Universitäten erstellte Untersuchung schätzte die Zahl der direkten und indirekten Todesopfer auf 100.000 seit dem Einmarsch der Allierten. Auf der Grundlage von Interviews mit Ärzten kamen die Autoren seinerzeit zu dem Ergebnis, dass die Sterblichkeitsrate seit dem Sturz des Saddam-Regimes um das 58-fache gestiegen, und rechneten dies auf die gesamte Bevölkerung hoch. Die US-Forscher haben bereits in der Vergangenheit mit dieser Methode den Kongokrieg untersucht und sind auf rund 3,5 Millionen direkte und indirekte Tote in fünf Jahren gekommen.

Weitere Schätzungen für Irak reichen von 10.000 bis 39.000. Wie der IBC-Bericht stützt sich ein Großteil solcher Angaben auf Medienberichte. Dabei hat IBC nach eigenen Angaben mehr als 10.000 irakische und ausländische Presseerzeugnisse ausgewertet. Das Problem dabei ist freilich, dass sich die Berichterstattung auf Bagdad konzentriert. Auch in der irakischen Hauptstadtpresse bilden viele Landesteile einen weißen Fleck. Darüber hinaus ist es kaum möglich, die verschiedenen Erhebungen miteinander zu vergleichen, da ihre Kriterien wie ihre Berichtszeiträume stark voneinander abweichen.

Wenig zur Klärung tragen auch die irakischen Behörden bei. Nach Angaben des Innenmisteriums haben die Attacken im Zweistromland im ersten Halbjahr 2005 8.175 Todesopfer gefordert. Dabei unterschied das Ministerium freilich nicht zwischen Polizisten und Zivilisten. Keinerlei Angaben liegen vom Verteidigungsministerium und den kurdischen Behörden vor.

Die Erhebung von IBC endet im März dieses Jahres. Bereits davor war eine stete Zunahme der terroristischen Gewalt in Form von Autobomben- und Selbstmordanschlägen zu verzeichnen. In den letzten Wochen wurde sie zur wichtigsten Waffe der Untergrundkämpfer. Insofern verwundert es, dass die Studie diesem Aspekt keine genauere Aufmerksamkeit schenkt.