Die Rettung fällt heute aus

Wie im Märchen schicken die Künstler der Ausstellung „Kinderszenen“ in Groß Leuthen die Kinder los – um dann doch hart in der Realität zu landen. Von der Kindheit als Sehnsuchtsort bleibt nicht viel

Unfall und Verbrechen – in der Welt von Bratkovs Bildern ist immer mit dem Schlimmsten zu rechnen

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Die Ursuppe stellt man sich so vor: Über den Boden des ganzen Ausstellungsraums hat Michael Kutschbach Knollen und pilzähnliche Gebilde ausgestreut, die mit nichts anderem als ihrer Teilung und Vermehrung beschäftigt scheinen. Mit Filzpantoffeln muss man da durchschlurfen und hat ganz schnell die Fantasie, wie die Masse wachsen und Knöchel und Knie erreichen könnte. Zu dieser doch etwas ekligen Vorstellung trägt die Projektion von Bildern bei, in denen die knolligen Körper sich bewegen und mit Farben überziehen. Das alles ist digital hergestellt und am Computer animiert, gewiss; und doch in seiner biomorphen Anmutung sehr lebensecht geraten.

Kutschbachs Installation gehört zu den originellsten Beiträgen der Ausstellung „Kinderszenen“, weil er nicht den Weg durch die Erinnerung nimmt. Sein Blick gilt der Zukunft und dem Albtraum von genetischer Manipulation und Kontrolle. Die Verklärung der Vergangenheit und die Rekonstruktion der Kindheit als Sehnsuchtsort versuchen zwar fast alle der 14 beteiligten Künstler zu vermeiden, weil das Ambiente der Ausstellung schon genug Nostalgie transportiert.

Das Wasserschloss Groß Leuthen ist eine vor hundert Jahren gebaute Fantasie von einer noch weiter zurückliegenden hochherrschaftlichen Vergangenheit. 1946 bis 2004 dienten Teile davon als Kinder- und Jugendheim. Von den Künstlern, die dort seit einigen Jahren im Sommer ausstellten, griffen deshalb immer einige die Vergangenheit als Heim auf. Dieses Jahr haben Arvid Boellert, der die Kunstschau in Groß Leuthen vor elf Jahren gegründet hat, und sein Kurator, der englische Kunsthistoriker Mark Gisbourne, das Thema „Kinderszenen“ erstmals für alle gesetzt.

Kindheit verändert sich. Die grausamsten Geschichten davon erzählt der Fotograf Sergey Bratkov aus der Ukraine. Im alten Bad des Schlosses hängen seine Bilder über den Waschbecken, liegen in der Badewanne und nutzen die Intimität des Ortes für die Andeutung finsterer Geheimnisse. Vom ihm stammt das Plakatmotiv: Zwei kleine Jungens, die gerade über die Tischkante blicken können und dort mit schreckgeweiteten Augen eine blutige Brechstange anstarren. Seine Fotografien erzählen Moritaten der Moderne und wimmeln von Kinderleichen, auf den Schienen, an der Steckdose, mit dem Kopf in der Plastiktüte. Unfall, Verbrechen, Vernachlässigung: alles hält man sofort für möglich, als ob in der Welt der Bilder immer mit dem Schlimmsten zu rechnen wäre. Bratkovs fotografische Inszenierungen ergänzen kurze Geschichten in holprigen Versen, und irgendwann fällt einem ein, dass es den Kindern, die in den Märchen auf den Weg der Initiation geschickt werden, oft nicht besser geht. Die Rettung und wunderbare Wandlung aber, die das Märchen verspricht, fällt bei ihm aus. Die Welt bleibt ein Ort voller Monster.

Diese schwarze Grundierung bestimmt viele der „Kinderszenen“. Sie ist in den Zeichnungen von Marcel Dzama gegenwärtig, der mit feinem Strich Mädchen mit spitzen Messern gegen Tiere mit scharfen Zähnen antreten lässt – und man weiß nie, wer einem mehr leid tut. Dass sich gerade das Kindliche und die Begeisterung der Erwachsenen am Infantilen ins Monströse auswachsen kann, ist der Subtext der Zeichnungen von Jake und Dinos Chapman. Kindheit ist in ihrem langer Fries aus vorgefundenem und bearbeitetem Material aus Comics, Kinderbüchern und Kunstgeschichte keine geschützte Zone, sondern mehr ein Phantasma zur Befriedigung von erwachsenen Sehnsüchten. Die Proportionen zwischen Groß und Klein geraten in ihren zeichnerischen Überblendungen ständig ins Rutschen; das Niedliche wird bis zur Lächerlichkeit aufgeblasen. Mehr Mitgefühl erregt auf jeden Fall die Kette der kindlichen Figuren, die Laura Ford in der Eingangshalle aufgebaut hat. Fünf Kinder halten sich am Hemdzipfel und folgen sich blind. Ihre Anzüge sind gestreift und die Köpfe umwickelt. Sie könnten Traumwandler ebenso sein wie Gefangene. Ihre Bewegung ist immer die einer tapsigen Flucht, von der man weder weiß, wo sie hinführt, noch ob sie gelingen wird.

Die Beteiligung von international bekannten Künstlern, zu denen auch Louise Bourgeois und Bjorn Melhus gehören, sichert der XII. Rohkunstbau, wie Boellerts Projekt seit jeher heißt, Aufmerksamkeit. Zudem sorgt ein Programm von „Landpartien“, mit Theater, Lesungen und Konzerten an den Wochenenden für Besucher. Arvid Boellert ist stolz, dass die Hälfte der Besucher aus der Region und nicht etwa dem nahen Berlin kommt, denn schon immer wollte er mit Rohkunstbau beweisen, dass Kultur kein Vorrecht der Großstädte ist. Die Entscheidung der Kulturstiftung des Bundes, das Projekt ab 2006 für drei Jahre zu unterstützen, bedeutet eine große Anerkennung.

Dennoch bleibt ein unbestimmtes Unbehagen zurück. Vielleicht weil alles ein wenig zu perfekt scheint: das Ineinandergreifen von Ausstellungsbeiträgen und Geschichte des Ortes, die alles erklärenden Texte zu den Kunstwerken, das Spielerische vieler Ausstellungsräume. Bei aller Boshaftigkeit in den Werken, sie werden von sanfter Kunstpädagogik eingemeindet in den Sinn. Vielleicht ist es das, was rebellisch macht, dass man sich zu sehr bei der Hand genommen fühlt.

XII. Rohkunstbau, Schloss in 15913 Groß Leuthen (Spreewald), Mi.–Fr. 14–20 Uhr, Sa. + So. 10–20 Uhr, bis 28. August. Infos unter www.rohkunstbau.de