Die ordnende Macht im Londoner Nebel

Geniale Fahnder mit Pfeife im Mundwinkel? Das war einmal. Der Mythos Scotland Yard ist in Gefahr. Die aktuelle Terrorbedrohung zeigt: Bei der Londoner Metropolitain Police wird längst nicht mehr nur mit Scharfsinn ermittelt, sondern vor allem mit moderner Überwachungstechnik

VON NATALIE TENBERG

Die Bilder ähneln sich in Motiv und Qualität: Grob gepixelte Aufnahmen von Überwachungskameras aus Bussen und U-Bahn-Stationen. Sie zeigen Passagiere – einer von ihnen hat eine zerstörerische Bombe im Gepäck. Es wird Tote und Verletzte geben. Nach dem Anschlägen von London, einer am 7. Juli und einer am 21. Juli, präsentiert Sir Ian Blair, Kopf der Scotland Yard und oberster Polizeichef von London, diese Bilder und somit einen schnellen Fahndungserfolg: Täter, Opfer und Motiv stehen fest. Hier ein Rucksack, dort eine Tasche, ein Attentäter, ein Lehrer, ein Angestellter eines Fish-&-Chips-Shops. Junge Männer, seit der Grundschule befreundet, greifen die Londoner Bevölkerung aus religiösem Hass an und finden dabei selbst den Tod. Scotland Yard hat ermittelt, Scotland Yard ist fündig geworden – dank moderner Technik.

Dass es Scotland Yard heute noch gibt, erstaunt zwar nicht, aber die Erwähnung dieses Namens in Zusammenhang mit moderner Verbrechensbekämpfung erscheint als Anachronismus – der Mythos Scotland Yard steht für die Kunst des Ermittelns, Über-Detektive und das Bewahren von Ordnung in der chaotischen Welt einer metastasierenden Metropole – nicht für eine hoch gerüstete, moderne Polizei einer im Grunde geordneten Hauptstadt, die vor einer ihrer bisher größten Bedrohungen steht.

Freilich ist der reale Inhalt des Mythos Scotland Yard – eine moderne Polizei in einer der bevölkerungsreichsten Städte Europas – längst von der Legende losgelöst, nach der Zivilfahnder mit Pfeife und Esprit den Täterkreis nach und nach einschränken bis einer feststeht: Der Täter, der es wagte, gegen die herrschenden Normen zu verstoßen.

Die Angst vor dem Neuen

Es war gerade das Fehlen von Technik, das einen Teil des Mythos Scotland Yard schuf. Der andere Teil bestand aus dem großstädtischen Umfeld dieser Polizei. Es ist ein urbaner Mythos, geboren aus der Erkenntnis, dass die Umwelt unübersichtlich und dadurch bedrohlicher geworden ist. In einem Dorf, wo die Menschen einander kennen, wäre er niemals entstanden. Er entspringt der Angst vor dem Neuen, dem Unbekannten, der hinter der nächsten Ecke steht. Dieser Unbekannte mag sich an die Regeln halten, man traut ihm aber auch zu, dass er es nicht tut.

Geschaffen wurde der Mythos der eifrigen und fähigen Fahnder Anfang des 19. Jahrhunderts: Am 29. September 1829 stellte der damalige britische Innenminister, Sir Robert Peel, einen Polizeitrupp auf, der die Sicherheit in der Hauptstadt des Empires und damit der bedeutendsten Stadt der Welt, gewährleisten sollte – die Metropolitain Police Force. Sie sollte Ordnung in den Moloch London bringen, in welchem das gesellschaftliche Zusammenleben arg von der Kriminalität bedroht wurde. Zunächst wurde eine uniformierte Streifenpolizei gegründet. Die uniformierten „Bobbys“ bekamen bald Verstärkung in Zivil, die am 4. Oktober 1875 in das Gebäude am Great Scotland Yard zog. Fortan wurde die Londoner Metropolitain Police nach ihrem Hauptquartier benannt. Der Name hat zwei Umzüge überstanden. Am Anfang genossen die Zivilfahnder unter der Londoner Bevölkerung ein hohes Ansehen und den Ruf, jeden Fall lösen zu können.

Doch genau wegen dieses Rufs brach 1887/88 ein PR-Desaster über die Truppe hinein: Scotland Yard jagte einen Täter, der im Bezirk Whitechapel mehrere Frauen ermordet und grausam zugerichtet hatte. Obwohl in der Bevölkerung große Verunsicherung herrschte – schließlich konnte in den dunklen und nebligen Gassen jeder zum Opfer werden –, schwiegen die Detectives zu den Ermittlungen. Die Presse begann daraufhin, Gerüchte zu veröffentlichen. Die Bevölkerung reagierte erzürnt und verunsichert, verlangte die schnelle Aufklärung des Falles vom „Mörder von Whitechapel“ . Also veröffentlichte Scotland Yard ein Bekennerschreiben, in dem sich der Täter als „Jack the Ripper“ bezeichnete. Noch mehr Wut und Panik brach aus, konnten die Londoner doch nicht glauben, dass Scotland Yard diesen Fall nicht zu lösen vermochte. Die Ermittler hatten sich, so die einhellige Meinung, einfach nicht genug Mühe gegeben, oder sie versuchten gar jemanden „ganz oben“ zu schützen. Bis heute ist die Identität von „Jack the Ripper“ ungeklärt.

In das reale Versagen Scotland Yards hinein wurde ein genialer Detektiv geschrieben, der in den kniffligsten Situationen half: Sherlock Holmes. Der britische Schriftsteller Sir Arthur Conan Doyle schuf 1887 den genialen Detektiv und bildete damit den Anfang des Mythos von Scotland Yard in der Literatur. Obwohl die Figur Holmes nur eine beratende Funktion für die Polizei hatte, wird er heute noch mit ihr identifiziert. Die Betrachtung jedes einzelnen Details in einem Fall und die daraus hergeleitete Schlussfolgerung, das Ordnen eines scheinbaren Chaos, faszinierte und fasziniert die Leser noch heute. Die Romane und Kurzgeschichten über Sherlock Holmes werden aus der Sicht seines Freundes Dr. Watson geschildert. Für das Krimi-Genre gilt dieses Prinzip noch heute: Der Ermittler braucht seinen Sidekick – und sei es, um den Wagen vorzufahren.

Ähnlich populär waren auch die Kriminalromane von Edgar Wallace. Unter diesem Namen veröffentlichte der Schriftsteller und Bühnenautor Richard Horatio Edgar von 1904 bis 1932 mehr als 175 Detektivgeschichten. Die Verfilmungen waren stilbildend, auch für spätere Kriminalfilme, wodurch sich der Mythos Scotland Yard noch tiefer ins kollektive Bewusstsein einprägte. Dabei war das Arbeitspensum des Schriftstellers mörderisch. Der chronisch verschuldete Edgar diktierte seine Geschichten von der finanziellen Not angepeitscht herunter.

Jagd auf Mister X

In den Achtzigern durfte dann jeder bei Scotland Yard mitmachen – dem beliebtem Brettspiel, bei dem die Spieler als Agenten über die Stadtkarte Londons jagen, auf der Suche nach Mister X. Es kam 1983 auf den Markt und wurde bis heute in 35 Ländern mehr als 4 Millionen Mal verkauft.

In der Realität führte Scotland Yard schon 1901 das „Fingerprint Bureau“ ein, eine Stelle zu Erfassung und Erkennung von Fingerabdrücken. Die Beweisaufnahme wurde dadurch erleichtert, ein technischer Durchbruch in der Aufklärung von Verbrechen. Wo zunächst nur drei Angestellte ihren Dienst taten, arbeiten heute mehr als 600 Personen.

Im 19. Jahrhundert war Scotland Yard noch für Spionageabwehr und internationale Verbrechen zuständig. Die Kompetenzen wurden jedoch schon Anfang des 20. Jahrhunderts eingeschränkt, als der britische MI5, der britische Inlandsgeheimdienst und Arbeitgeber der Filmfigur James Bond, geschaffen wurde. Heute droht Scotland Yard ein weiterer Kompetenzverlust: Die Blair-Regierung hat sich die Gründung einer „Serious Organised Crime Agency“ nach dem Vorbild des FBI vorgenommen. 5.000 Agenten sollen Aufgaben übernehmen, die bisher Scotland Yard vorbehalten waren.

Durch die Terrorangriffe in London ist ein Teil des ohnehin bröckeligen Mythos bereits zerstört. Die Bewohner Londons erkennen, dass die Fahndungserfolge keine Erfolge von Über-Ermittlern sind, sondern nur dadurch entstehen, dass alle kontinuierlich überwacht werden. Besonders raffiniert ist das nicht. Dafür gewinnt aber der zweite Aspekt des Mythos an Bedeutung. Vor dem Hintergrund der Bombenattentate und der Bedrohung in London verlangt die Bevölkerung noch mehr als vorher nach einer Macht, die Ordnung ins Unbekannte bringt. Wie feinfühlig Scotland Yard mit diesen Ansprüchen umgeht, ob sie der Versuchung verfallen, dem Neuen und Unbekannten generell skeptisch gegenüber zu stehen, oder ob sie gewissenhaft und aufgeklärt mit dem Unbekannten umgeht, wird darüber entscheiden, ob der Mythos auch in Zukunft fortbestehen wird. Die versehentliche Erschießung des völlig unschuldigen 27-Jährigen Brasilianers Jean Charles de Menezes in der U-Bahn-Station Stockwell lässt daran zweifeln.