Das Phantom von 1968

Die Debatte um das Kraushaar-Buch: Fahrlässige Vereinfachungen und ideologische Schwarzweißmalerei liefern noch lange keine ausreichende Hinweise für einen obsessiven Antisemitismus der Linken in den späten Sechzigerjahren

Wolfgang Kraushaar beschönigt nichts und rechtfertigt niemanden, sondern fordert die Linken zur Selbstreflexion auf

Der mediale Betrieb wird immer aparter. Da erscheint ein ebenso seriöses wie in mehrfacher Hinsicht wichtiges Buch des Politikwissenschaftlers Wolfgang Kraushaar über den Beginn der Stadtguerilla in der BRD. Und was macht der Rezensentenbetrieb? Macht sich selbst bzw. seine Arbeiten zum Thema.

Den Vogel schoss Volker Breidecker in der SZ ab. Seinen Bericht über die Buchpräsentation in Frankfurt schloss er mit einer abstrusen Verschwörungstheorie. Demnach gehört der „camouflierte Antisemitismus“ zur ideologischen Grundausstattung der 68er-Bewegung. Beleg: „Fast alle namhaften Faschismustheoretiker der Neuen Linken (sind) bei Ernst Nolte in die Schule gegangen.“ Auf der Veranstaltung, auf der Kraushaar sein Buch präsentierte, stellte ein Zuhörer genau diese These auf. Kraushaars Antwort: „Derlei möchte ich nicht kommentieren“, und sein Buch hat mit solchem Schwachsinn nichts zu tun. Aber wer war der Fragesteller in Frankfurt? Erraten: Volker Breidecker.

Götz Aly benützte die Rezension des Kraushaar-Buches in der Welt für eine Abrechnung mit der 68er-Bewegung im Allgemeinen (eine „zutiefst intolerante und antidemokratische Bewegung“, sagt der tolerant-demokratisch getaufte Exmaoist Aly), für die Rehabilitation des demagogischen Springer-Schlachtrosses Matthias Walden und für die schlichte Übertragung von Motiven aus seinem letzten Buch auf die Protestbewegung. Martin Kloke nahm Kraushaars Buch (siehe taz vom 18. 7. und 1. 7.) zum Anlass, seine Thesen zu wiederholen, die er bereits vor fünfzehn Jahren unters Volk brachte und die mittlerweile nur noch israelische Regierungssprecher und fundamentalistische Fanatiker vertreten: Antiimperialismus, Antizionismus und Kritik an Israel sind etwa dasselbe und beruhen auf nichts anderem als auf „traditionellem Antisemitismus“ bzw. „antisemitischen Obsessionen“. Der auf „Urszenen“ spezialisierte Autor Gerd Koenen wiederum gab vergangene Woche Focus ein Interview zum Anschlag auf das Jüdische Gemeindehaus und brachte es fertig, das Buch von Kraushaar gar nicht erst zu erwähnen. Für Micha Brumlik schließlich, der Bücher „klinisch“ liest, sind Linke, wie er in der FR am Freitag kundtat, seit 200 Jahre immer nur eines gewesen: „Judenhasser“.

Mit Kraushaars Buch aber haben solche versimpelten Weltbilder, durchsichtigen Immunisierungsstrategien und holzschnittartigen Pauschalisierungen gar nichts zu tun. Es ist aus zwei Gründen wichtig. Erstens stellt es klar, dass den gewalttätigen Aktionen der sehr kleinen Gruppen der Tupamaros Westberlin und München sowie jenen der später entstandenen RAF eindeutig antisemitische Motive zugrunde lagen. Aber weder die Kunzelmann-Gruppe noch die Baader-Meinhof-Gruppe sind repräsentativ für die zerfallende Protestbewegung. Anders als die FAZ zu wissen meint, waren nicht „die“ Linken „Judenhasser“, sondern der verbiesterte und verbrecherische Wahn von minoritären Grüppchen wollte mit Anschlägen auf jüdische Einrichtungen die neuen Linken von ihrem nachhaltigen Eintreten „für ein Schuldbekenntnis und für Wiedergutmachung gegenüber Israel“ (Kraushaar) abbringen. Es ist ihnen nicht gelungen: „Der linke Antisemitismus“ ist – außerhalb der „Stadtguerilla“ und ihren Claqueuren– ein Phantom.

Zweitens jedoch weist Kraushaars Buch auf ein Problem, das direkt mit Israel und dem Sechstagekrieg von 1967 zu tun hat. Mit der israelischen Eroberungspolitik kippte die israelfreundliche Stimmung im Land. Die Veranstaltungen des israelischen Botschafters Ascher Ben-Natan im Juni 1969 in Frankfurt, Hamburg, Berlin und München begriff die studentische Linke als propagandistische Provokation und störte bzw. verhinderte sie oder „funktionierte sie um“, wie das damals hieß. Soweit es dabei zu Tätlichkeiten kam, gingen sie nicht vom SDS und den Studenten aus, sondern von obskuren Leuten, die in schweren Limousinen vorfuhren und die Studenten verprügelten.

Auch was damals in buchstäblich schneller Flugblätterprosa über „die Blitzsieger“ von 1940 und jene von 1967 oder die „faschistische“ bzw. „rassistische“ Politik Israels geschrieben wurde, bildet kein Ruhmesblatt der Protestbewegung und stellt ihrer historischen Bildung und politischen Zurechnungsfähigkeit ein schlechtes Zeugnis aus. Aber man sollte aus solchen Texten, die im politischen Handgemenge entstanden, nicht mehr herauslesen, als drin stand. Dass „die linken Aktivisten“ einfach „die Sprache ihrer Nazi-Väter“ übernommen hätten, wie Götz Aly meint, ist eine ebenso bodenlose Behauptung wie die Vermutung, der unbestreitbare Antisemitismus der Kunzelmann-Gruppe bilde die ideologische Grundlage der gesamten neuen Linken.

Kraushaar beschönigt nichts und rechtfertigt niemanden, sondern fordert die Linken zur Selbstreflexion auf. Man glaubte damals ernsthaft, mit der Unterscheidung von legitimem Antizionismus/Antiimperialismus auf der einen und indiskutablem Antisemitismus auf der andere Seite eine brauch- und vertretbare politische Position gefunden zu haben. Aber die realen Verhältnisse gingen in diesem abstrakten ideologischen Schema nicht auf. Die vermeintliche Klarheit der Unterscheidung täuschte. Denn mit der bloßen Subsumierung von Antizionismus unter den Allerweltsbegriff Antiimperialismus ging die historische Dimension verloren, der Israel seine Entstehung und sein unbedingtes Existenzrecht verdankt. Man bewegte sich damals mit der politischen Gleichsetzung von Zionismus und Imperialismus auf einem sehr schmalen Grat zwischen der legitimen Forderung nach der Wiederherstellung der Grenzen von vor 1967 oder der Errichtung eines lebensfähigen palästinensischen Staates und palästinensischen Maximalvorstellungen, die auf die Vernichtung des Staates Israel hinauslief.

Historische Differenzierung und Kontextualisierung, die Kraushaar fordert, werden keinen „linken Antisemitismus“ zutage fördern, wohl aber fahrlässige Vereinfachungen und ideologische Schwarzweißmalerei, mit denen linke Bewegungen und Organisationen sich damals ein passendes Weltbild bastelten.

RUDOLF WALTHER