sozialkunde
: Eine Neudefinition der Nation muss her

Nie wieder Krieg: Der Verlust von Freiheiten und die Differenz Europas im Rahmen des europäischen Einigungsprozesses

Integration, so hat der Kulturanthropologe Robert Anderson einmal definiert, vollzieht sich über die Reduktion von Freiheitsgraden. Sie ist fraktal, ergänzen Negri/Hardt in ihrer Studie über das Imperium, indem sie das zu Integrierende in die Form einer Differenz bringt, die sich auf allen Ebenen der Gesellschaft wiederholt. Diese Differenz definiert einen Bezug, und sie definiert die Art und Weise, wie dieser Bezug gelebt wird. Was sieht man, wenn dieser Integrationsbegriff auf die Europäische Union angewendet wird, die sich nach dem Nein der Franzosen und Holländer eine „Denkpause“ verordnet hat, um über die Form ihrer Integration nachzudenken? Welche Freiheitsgrade hat der Einigungsprozess bisher gekostet und die Gestalt welcher Differenz hat Europa bisher angenommen?

Den aktuellen Stand der europäischen Einigung begreift man nur, wenn man sowohl das Pathos der Europapolitiker als auch das tägliche Geschäft der Europabürokraten ernst nimmt und aufeinander bezieht. Der wichtigste Freiheitsgrad, den die europäische Einigung gekostet hat, ist die Möglichkeit der Nationen Europas, miteinander Krieg zu führen. Vor dem Hintergrund dieses Verlustes muss es faszinieren, wie attraktiv die EU für die Beitrittskandidaten im Osten und Südosten Europas ist, und es muss alles dafür getan werden, diese Beitritte zu ermöglichen. Doch welche Differenz organisiert die Integration Europas? Es ist eine Sache, auf einen Freiheitsgrad zu verzichten, und eine andere, herauszufinden, welche Freiheiten man dann noch hat.

Aufschlussreich ist da die Forschungsarbeit des Passauer Soziologen Maurizio Bach, der in seinem Buch „Die Bürokratisierung Europas“ (1999) dem Zusammenhang der „expertokratischen Fusionsbürokratie“ Brüssels auf der einen Seite und den „nationalen Gesellschaften“ der Mitgliedsländer auf der anderen Seite im Rahmen eines „Mehrebenensystems“ nachgeht. Schon die Begrifflichkeit versteht sich nicht von selbst, weil sich in Europa ein Verwaltungsmodus entwickelt hat, der mit dem bisher von Bürokratien und Nationen gewohnten wenig gemeinsam hat und doch immer wieder die gewohnten Affekte provoziert. Die Differenz, die sich hier herausschält, ist eine Differenz, die den Frieden sichert, indem sie Büros auf Nationen bezieht und dabei beide Seiten der Differenz unter einen erheblichen Modifikationsdruck setzt. Was zunächst die Büros betrifft, so beeindruckt jeder Besuch in Brüssel durch die Intensität, mit der dort das Selbstbewusstsein irischer, griechischer, französischer oder deutscher Beamten vor dem Hintergrund der Traditionen ihrer jeweiligen öffentlichen Dienste aufeinander trifft und die seltsamsten Blüten treibt. Entscheidend jedoch ist, dass wegen dieser unterschiedlichen Traditionen und der immer wieder neu zu integrierenden Nationen jede einzelne der zu treffenden Entscheidungen eine Form annehmen muss, die zunächst weder traditionell noch national motiviert sein darf.

Stattdessen muss sie so aus der Sache motiviert werden, dass sie als überlegen gegenüber jeder nationalen Entscheidung behauptet werden kann. Das ist auch der Grund, dass es der Kommission so schwer fällt, sich an das Prinzip der Subsidiarität zu halten. Die Form, in der die Brüsseler Bürokratie diese Anforderung der Überlegenheit erfüllt, ist die der so genannten Reisekader. Brüsseler Bürokraten sind entweder dauernd unterwegs oder werden dauernd besucht. Sie treffen sich mit den Bürokraten der nationalen Administrationen, mit Lobbyisten, Betroffenen und Vertretern verschiedener Interessen und destillieren aus Kommissionen, Flurgesprächen und administrativen Möglichkeiten ihre Entscheidungen, die, wie vermittelt und im Einzelnen unbefriedigend auch immer, an der Bedingung der Friedenssicherung zu messen sind.

Das eigentliche Problem Europas besteht darin, dass es seinen Nationen sehr schwer fällt, auf die Möglichkeit der Kriegsführung zu verzichten, an der einst die Formatierung der Gesellschaft inklusive aller Mechanismen der politischen Entscheidungsfindung und kulturellen Identität hing. Nicht in der Bändigung der Bürokratie, sondern in der Neudefinition der Nation sind die Europapolitiker gefragt. Gut möglich, dass gerade in dieser Hinsicht die Türkei im Zuge ihrer Integration in die EU zum Modellfall wird. DIRK BAECKER