Die wahren Väter der Fantasy

Das Unbelebte hat seinen eigenen Willen, und dem ist nicht zu entkommen: Das Genre aber hat seine eigenen Regeln, die ebenso schwer zu durchbrechen sind. Das zeigt sich auf dem „19. Fantasy Filmfest“, das durch die Republik tourt und nur mit einem Film wirklich überrascht

Der verstörendste Film ist der, der sämtliche Genrecodes und -erwartungen über den Haufen wirft

VON DIETMAR KAMMERER

Im Festivalkatalog des heute anlaufenden „19. Fantasy Filmfest“ preist eine ganzseitige Anzeige den neuesten Film von Terry Gilliam an, „The Brothers Grimm“. Der läuft zwar selbst nicht im Programm, hat aber die treffende Werbezeile: die Märchen sammelnden Brüder seien „die wahren Väter der Fantasy!“. Von den Müttern ist wieder einmal nicht die Rede, obwohl bekannt ist, dass ein Großteil der „Kinder- und Hausmärchen“ den beiden Herausgebern von einer Frau, Dorothea Viehmann, in die Feder diktiert worden ist. Recht haben die Werbetexter immerhin mit ihrer Behauptung, „Fantasy“ als Oberbegriff für ein Kino, das mit Elementen von Horror, Science-Fiction oder Suspense arbeitet (im Jargon der Festivalkuratoren: Mutanten, Manga oder Maniacs), stamme vom Märchen ab und sei damit Nachfahre einer Volkskultur, die bekanntlich weder Geschichte noch Logik kenne, es sei denn die Logik des Traums in der unbestimmten Zeit des „Es war einmal …“

Und weil Märchen immer schon Schauplatz der Auseinandersetzung des Anarchisch-Infantilen mit dem Verlust der Kindheit waren (sie vermitteln denen, die davon nichts wissen können, die Schrecken des Erwachsenwerdens), entwickelt in „Dear Wendy“ eine Gruppe von Jugendlichen, born losers, die einer desolaten Zukunft in einem Minenarbeiterstädtchen im Südosten der USA entgegensehen, unversehens eine fatale Faszination für antike Handfeuerwaffen.

Es gilt eine weitere Märchenregel: Das Unbelebte hat seinen eigenen Willen, dem nicht zu entkommen ist. Die Wirklichkeit holt die selbst ernannten „Pazifisten mit Pistolen“ mit aller Härte auf den staubigen Boden der Tatsachen zurück. Was bei Lars von Trier, der das Drehbuch verfasste, dann aber offensichtlich die Lust an dessen Verfilmung verlor, zumindest den Reiz des schroff Unvermittelten hätte entfalten können, wird in der Dramaturgie von Thomas Vinterberg zum psychologisierenden Drama um massiv verwirrte Adoleszenz und fehlgeleitete Grandezza. Weniger Erklärung wäre hier mehr gewesen, und vor allem das schwer erträgliche Pathos des schießwütigen Finales begräbt die erste Hälfte des Films, in der ein klischeefreies Ende zumindest noch vorstellbar war, unter seiner Bedeutungswut. Zu erwähnen bleibt das durchweg sehenswerte Darstellerensemble, allen voran Jamie Bell, der mittlerweile meilenweit entfernt von der Niedlichkeit eines „Billy Eliot“ einen doppelbödigen Charakter in Szene setzt, sowie Bill Pullman als Kaugummi kauendem Vertreter von Recht, Ordnung und Hinterlist.

Findige Literaturforscher haben übrigens längst nachgewiesen, dass ein übersichtliches Repertoire von 31 „Funktionen“ genügt, um durch Rekombination sämtliche denkbaren Märchenerzählungen programmieren zu können. Kein grenzenloses Füllhorn der „Fantasie“, sondern geschicktes (oder stures) Immer-wieder-neu-Zusammenfügen sorgt auch für zeitgenössischen Kinogrusel, wie an „The Descent“ deutlich wird. Dort erwischt eine Ausflugsgruppe von Frauen auf Höhlenexpedition einmal eine falsche Abzweigung und findet sich im Folgenden in einer Art Unterwelt-Remake von „Beim Sterben ist jeder der Erste“ wieder: Städter auf einem Selbstfindungstrip ins Grüne entdecken, wie dünn das Mäntelchen der Zivilisation über der Natur tatsächlich ist, bloß dass sie es diesmal statt mit inzestgefährdeten Hinterwäldlern mit schleimtriefenden steinzeitlichen Vampirhöhlenwesen zu tun bekommen, die wie die Monster aus „Aliens“ bevorzugt kopfüber an Decken entlangkrabbeln und ihrem ungesunden Aussehen nach nahe Verwandte des Finsterlings Gollum aus „Herr der Ringe“ sind.

Nicht, dass das der klaustrophobe Höhlenhorror des Briten Neil Marshall den Fans des Genres nicht ganz genau all das liefern würde, wofür sie ihr Eintrittsgeld an der Kasse gelassen haben: Schreie im Dunkeln, blitzartige Attacken, die unvermeidliche Auslese des Personals in solche, die als Opfer auf der Strecke bleiben, und solche, die in der Not der Verhältnisse selbst zu rasenden Killermaschinen mutieren. Aber warum müssen „The Descent“ und andere Filme so aussehen, als wären ihre Versatzstücke auf einer Einkaufstour durch einen Supermarkt entstanden, in dessen Regalen die Bildkader, Motive, Gesten als Do-it-yourself-Bastelpack schon vorgefertigt bereitgelegen haben? „Das Imperium der Wölfe“ von Chris Nahon hetzt durch die Genrecodes wie seine Protagonistin auf der Flucht vor der französischen Drogenpolizei durchs regnerische Paris. Der Plot nimmt so viele unwahrscheinliche Wendungen (Serienmörder, Amnesie-Thriller, Horrorfilm, guter Cop, böser Cop, internationaler Terrorismus), dass vermutet werden darf, dass das Drehbuch mit den Mitteln des Aufschreibespiels entstanden ist, das die Surrealisten „Erlesene Leiche“ nannten: Einer schreibt einen Satz, knickt das Papier derart, dass nur die letzten Worte zu lesen sind, gibt das Geschriebene so an seinen Nächsten weiter, der fügt etwas hinzu, und die Prozedur wiederholt sich.

So entstehen, in immer neuen Faltungen des Bekannten aufeinander, Storylines mit minimaler Plausibilität und maximalem Wiedererkennungswert. Und deshalb ist der vermutlich verstörendste und abgründigste Film im Festivalprogramm einer, der sämtliche Genrecodes und -erwartungen über den Haufen wirft und im vollständigen Ausbleiben von Schockeffekten seine unheimliche Präsenz gewinnt.

Die Untoten in „Les Revenants“ sind keine rachedürstigen Zombies, sondern die verstorbenen Geschwister, Eltern, Kinder, die auf einmal, unverletzt und in ihrer Alltagskleidung, zu tausenden von den Friedhöfen in die Innenstädte gelaufen kommen. Statt Panik bricht die zweitbeliebteste Form von Verdrängung aus: Die Wiedergekehrten werden als Problem der Administration behandelt. Die Stadtverwaltung setzt sie in Busse, das Militär errichtet Flüchtlingslager. Man muss sie identifizieren und wieder mit ihren Familien zusammenführen. Arbeitsplätze müssen geschaffen werden. Trotz der Reintegration bleibt der unausgesprochene, dafür umso insistierendere Schrecken der allmählichen Erkenntnis über den wahren Grund der Rückkehr. Robin Campillo, langjähriger Drehbuchautor von Laurent Cantet und auch in seinem Debüt als Regisseur dessen Konzept eines kontemplativen Sozialrealismus verpflichtet, stellt die einfache Frage des „Was wäre, wenn …“ im Kontext der widersprüchlichen Bewegungen der Trauer, die diejenigen, die fortgegangen sind, vermisst, weil nur so ein endgültiger Abschied möglich ist.

Die Filme des „19. Fantasy Filmfest“ sind von heute an bis zum 3. August in München zu sehen und machen anschließend Station in Stuttgart und Nürnberg (3.–10. August), Frankfurt und Köln (10.–17. August), Hamburg und Berlin (17.–24. August). Weitere Infos unter www.fantasyfilmfest.com