SUSANNE LANG über DIE ANDEREN
: Mister Einstein, wir müssen reden!

Im Reichstag entscheidet sich die Zukunft der Republik? Knapp daneben. Im Café Einstein

Etwas musste passiert sein. Ich saß, wie es sich für Hauptstadt-Journalistinnen gehört, an meinem Tischchen im Café Einstein und schaute mich um. Was so geht, wer so kommt, worüber an den Nebentischen geredet wird. Praktischerweise liegt dieses Kaffeehaus ja nur einen Sprung von den Abgeordnetenbüros und vom Reichstag entfernt. Wer nicht mindestens einmal in seiner Zeitung eine gewichtige Information aus „dem Einstein“ zitieren kann, hat verloren. Alte Regel des Berliner Journalistenpokers. „Aber Sie schreiben doch nie über die Politik“, hatte meine Nachbarin, Frau Fromm, angemerkt, als ich ihr stolz von meinem neuen Zeitvertreib erzählte. „Ist doch egal“, sagte ich.

An jenem Tag also musste etwas passiert sein. Die Falten um ihren Mund zogen noch tiefere Furchen, die braunen Haare klatschten noch klebriger an. Sie saß wie jeden Mittag an ihrem Platz, neben der Flügeltür aus Glas, die ins Innere dieses erhabenen Ortes führt. Sie saß, Weinglas vor sich, omiblaues Knielangkostüm an sich, und starrte in den Raum. Sie, die Waffenlobbyistin. Von der CDU. Ohne Namen, wie es sich für Geschichten aus „dem Einstein“ gehört. Ich studierte oft die Variationen ihres Pokerface, um, nahm ich mir vor, sie zu Hause vor dem Spiegel zu üben.

Aber jetzt musste offensichtlich etwas passiert sein, sie saß einfach da und starrte. Regungslos. Während an ihr vorbeirauschten: Innenminister-Delegationen, Fraktionschef-Kohorten, Alt-Amtsträger-Trosse, Lobbyisten-Banden. Sie schwärmten an ihr vorbei, in den allerheiligsten Bereich des Cafés, ins Hinterzimmer der Berliner Republik.

Ich folgte ihnen unauffällig und peilte die wichtigste Instanz dieses Ortes an: dunkelblauer Anzug, schlaksig, aber mit Haltung, aufmerksames Lächeln, fester Blick in die Gesichter, ein herzliches „Guten Tag“, das mit einem Fragezeichen endet. „Mister Einstein“, sagte ich mit fester Stimme, „was geht hier vor?“ Der Geschäftsführer des Hauses stand am Tresen, neben ihm aufgeschlagen das schwarze Reservierungsbuch, wie immer. Er lächelte, geheimnisvoll. „Alle sind etwas betriebsamer, ja, das ist wohl wahr.“ Der Chef war diskret, wie immer. Deshalb kamen sie ja alle so gerne zu ihm.

So kam ich nicht weiter. Ich zog die Geheimwaffe: das Handy. Wer wichtig sein will, hat immer eine Nummer parat. Ich hatte mir eine geliehen. Mein Kontaktmann. Er hatte Zeit. Gleich am nächsten Morgen. „Soll ich reservieren?“, fragte er. Ich stimmte zu. Die Leute mit Namen reservieren – erste Regel des Einstein.

Ich war pünktlich. Begrüßte Mister Einstein und sagte, souverän: „Es ist ein Tisch reserviert, auf den Namen X.“ Er nickte und führte mich diskret an den Tisch im Eck, an der Fensterfront. Mein Kontaktmann kam später. 20 Minuten. So hatte es zu sein. In der mittleren Tischreihe, kleine Boxen, die durch Holzstelen abgetrennt sind, saß der Fraktionschef einer kleineren Nochregierungspartei und redete auf einen sehr blonden jungen Mann ein. Journalisten-Briefing. „Der Tisch ist doch okay“, bemerkte mein Kontaktmann und bestellte eine Erdbeersaftschorle. Ich wunderte mich über die Zahl der Gedecke auf dem Tisch: drei? „Wenn man ungestört reden möchte“, erklärte er, „reserviert man für drei Personen“ – zweite Regel des Einstein. An den Tischen an der Wandreihe, die für zwei Personen Platz haben, könnten die anderen Gäste mithören.

„Was geht hier vor?“, fragte ich meinen Kontaktmann. Er lächelte, souverän. Und sagte knapp: „Verteilungskampf.“ Nach der Landtagswahl in NRW wurde sofort die Zukunft nach den Neuwahlen verhandelt. Zuerst waren es die Listenplätze, die hier, im vertrauten und doch öffentlichen Ambiente des Einstein, verdealt wurden – soll ja jeder sehen können, wer mit wem spricht. Nur nicht hören, worüber. Dritte Einstein-Regel. Vor allem auf den SPD-Listen sei es eng, aber auch bei der CSU, in der die vielen jungen Überhangmandatgewinner Panik hätten, dass sie diesmal nicht mehr in den Bundestag kämen. Er lachte. Sein Wahlkreis, gewiss, ist ihm sicher.

Anschließend waren es die sicheren Ausscheider des Bundestags, die ihre Mitarbeiter bei den zahlreich umherschwirrenden Lobbyisten unterbringen wollten, im Einstein. „Wissen Sie“, sagte mein Kontaktmann, „Politik ist nichts anderes als ein Spiel.“ Man müsse es nur spielen können. In diesem Moment zog der ehemalige König von Sachsen ein, mit Gattin und Stab und blickte sehr gelassen drein. „Jetzt bastelt man an der großen Koalition“, sagte mein Kontaktmann.

Ich nickte und verabschiedete mich, höflich. Ob Mister Einstein viele Gesichter vermissen wird? „Ach doch, man ist ja eine Familie“, antwortete er. Ob er sich freut auf neue Gesichter? „Aber ja, alle sind willkommen“ – alle, die sich auf dem Boden der Demokratie bewegten.

Sie jedenfalls saß noch immer an ihrem Platz. Jetzt hatte ich es verstanden: Seit Neuwahlen angesetzt sind, glaubt sie sich raus aus dem feinen Spiel. Etwas Schlimmeres könnte sie sich nicht antun.

Wer ist Mann X? kolumne@taz.de Morgen: Arno Frank über FAUNA UND FLORA