Die Grenzen der Freiheit

Wiktor Juschtschenko, vom Westen umjubelt, handelt als ukrainischer Ministerpräsident so autark wie sein Vorgänger – wenn’s um die Presse und die Eskapaden seines verzogenen Sohnes geht

VON BARBARA OERTEL

Der ukrainische Staatspräsident Wiktor Juschtschenko, eines der Symbole der letztjährigen „ Revolution in Orange“ und Hoffnungsträger von Millionen Ukrainern, ist auf dem besten Weg, in die Fußstapfen seines autoritären Amtsvorgängers Leonid Kutschma zu treten. Das jedenfalls ist die Meinung hunderter ukrainischer Journalisten, die Unterzeichner eines Protestbriefes an die Adresse Juschtschenkos sind.

„Wir glauben nicht, dass Ihr Vokabular und Ihr Ton dem Staatschef eines demokratischen Landes würdig sind. Sie verletzen die Redefreiheit, die heute in einem freien Zugang zu Informationen besteht, was das Leben von Personen des öffentlichen Lebens mit einschließt. Die Menschen haben das volle Recht, über die Einnahmen, Ausgaben und den Lebensstil Ihrer Familie informiert zu werden“, heißt es in dem Schreiben. Und weiter: „Wir sehen uns gezwungen festzustellen, dass sich das Land auf dem Weg von Pressefreiheit hin zu Zensur und Selbstzensur befindet. Gerade dieses machte während der Amtszeit Ihres Vorgängers die Aufrechterhaltung von journalistischer Unabhängigkeit unmöglich und war der Anfang vom Ende des undemokratischen Regimes.“ Abschließend fordern die Journalisten den Präsidenten auf, sich bei dem Journalisten Sergej Leschenko zu entschuldigen sowie auf alle Fragen in Sachen Einkommensquellen und Ausgaben der Familie Juschtschenko zu antworten.

Anlass für den Brief, die die Internetzeitung Ukrainska Pravda vor wenigen Tagen veröffentlichte, ist eine Pressekonferenz vom Montag vergangener Woche. Da hatte besagter Sergej Leschenko, der Korrespondent der Ukrainska Pravda ist und dort kurz zuvor einen ausführlichen Artikel über den ausschweifenden Lebenswandel des 19-jährigen Juschtschenko-Sprosses Andrej veröffentlicht hatte, den Präsidenten mit unangenehmen Fragen behelligt. Wie könne sich der Student Andrej einen BMW M6 im Wert von 120.000 Dollar leisten? Woher habe er das Luxushandy der Marke Vertu, das mal eben 30.000 Dollar kostet? Das Luxusauto sei geleast und das Handy ein Geschenk von einem Freund, sagte Juschtschenko und holte dann zum Gegenschlag aus: Leschenko solle sich „wie ein höflicher Journalist benehmen und nicht wie ein Killer“, sagte er.

Auch nach dem Protestbrief retournierte Juschtschenko prompt. Für ihn seien Redefreiheit und die Freiheit von Journalisten allgemein anerkannte Grundsätze, schrieb der Präsident und versicherte die Journalisten der Ukrainska Pravda seinen Respekt. „Es ist gut, dass wir in einem Land leben, wo es weder Themen noch Personen gibt, die für Diskussionen tabu sind. Es ist richtig, dass der Präsident und seine Familie unter dem wachsamen Auge der Presse leben. Doch dies ist kein Grund, meiner Familie das Recht auf Privatleben zu nehmen“, heißt es in dem Antwortbrief weiter.

Doch trotz Juschtschenkos Beteuerungen sind am Respekt der Regierung gegenüber Meinungs- und Pressefreiheit Zweifel angebracht. Bereits im März hatte Alexander Moros, Chef der Sozialisten und bei den Orange-Revolutionären in vorderster Front, ein Schreiben initiiert. Die Medien sollten endlich aufhören, die neuen Autoritäten zu diskreditieren, heißt es darin unter anderem. Eine der Mitunterzeichnerinnen: Regierungschefin Julia Timoschenko.

Ein weiterer Kritikpunkt ukrainischer Journalisten ist ein Dekret vom vergangenen Mai, das die offizielle Registrierung von Websites durch einen Administrator vorschreibt. Obwohl das Ministerium für Transport und Kommunikation mitterweile klarstellte, dass sich diese Regelung nur auf Websites der Regierungsbehörden bezieht, bleiben Experten skeptisch. Sie sprechen von dem absurden Versuch, eine Internetzensur einzuführen.

Irina Solonenko von der Internationalen Renaissance Foundation in Kiew findet weniger den verbalen Ausrutscher Juschtschenkos als vielmehr die Reaktion der Journalisten darauf bemerkenswert. „Dieser Protest hat mich wirklich überrascht und wäre zu Zeiten Kutschmas unmöglich gewesen“, sagt sie. „Das zeigt doch, wie sehr sich unsere Gesellschaft durch die orange Revolution zum Positiven verändert hat.“