Nach Hause kommen

Auch so eine vorgezogene Neuwahl beginnt also mit vertrauten und lang eingeübten Ritualen – die ersten Plakate der Bundestagsparteien hängen an Straßen und Plätzen

Wenn etwas lang Erwartetes dann tatsächlich eintritt, und zwar genau so, wie man es erwartet hatte, dann gibt es, mal idealtypisch gesprochen, zwei Möglichkeiten. Entweder es folgt das große Gähnen, Modell Bayern München spielt gegen Amateure und führt nach zehn Minuten mit zwei zu null. Oder aber das Ding haut total rein. Die Dialektik von Erwartungsangst und Erwartungslust, die sich erst aufbaut und dann schlagartig materialisiert: Das sind, jetzt allgemein gesprochen, schon die tollen Momente des Menschseins.

Botho Strauß hat sich in diesem Zusammenhang mal als Fulgurist bezeichnet. Dafür erntete er berechtigterweise viel Gekichere, aber der Einschlag des Blitzes, manchmal ereilt er einen eben doch. Nun, vielleicht ist damit nicht gleich die ganze Moderne hinweggespült, wie Strauß sich das vorstellt, aber zumindest ist doch erst mal der Abend gerettet, die gute Laune wiederhergestellt. Auch nicht schlecht! Der Theatervorhang hebt sich zur Premiere, die ersten Seiten des neuen Coetzee liegen vor einem – und plötzlich (dieses Wort darf hier keinesfalls fehlen, genauso wenig wie der Gedankenstrich) – plötzlich also ist man wie ausgewechselt.

Nun ja. Was sich jetzt von dem lang Erwarteten endlich materialisiert hat, das sind die ersten Plakate zur Bundestagswahl. Man tut ihnen keinen Tort an, wenn man sie bei Bayern gegen Amateure zuordnet. Die Kandidaten lächeln einem von aufgeblasenen Passbildern entgegen. Das war’s! So eine peppige Vorwahldramaturgie, der Bundespräsident hatte nicht mal Zeit, die Krawatte zu richten, bevor er den Staatsnotstand ausrief, und dann solch biedere Fotos! Nie war der Fulgurismus entfernter. Man kann es auch handfester sagen: Scheiße, sind die langweilig!

Aber man soll auch nicht ungerecht sein. Wahrscheinlich bringen sie am Anfang die schlichtesten Motive sowieso nur deshalb, um nach hinten heraus Aufmerksamkeitssteigerungen zu inszenieren. Sobald man all die tollen Ideen antizipiert, die noch auf uns zukommen werden, findet man diese Langweilerplakate gleich besser. Außerdem hat es etwas Tröstliches, dass selbst so eine dazwischengekommene Wahl wie diese dann eben doch mit lang eingeübten Wahlkampfritualen anfängt. The same procedure as every election, James. Das hat was von Nach-Hause-Kommen.

Demokratietheoretisch gesprochen, haben die ersten Wahlplakate nun also Köhlers Krawatte gerade gerückt. Blitzen wird es schon auch noch irgendwo.

DIRK KNIPPHALS