Keine Wahl

Ohne Diskussionen, weil ohne Alternativen: Frank Castorf bleibt bis 2010 Intendant der Berliner Volksbühne

Sommerpause der Theater, fast nichts tut sich. Auf dem Dach der Berliner Volksbühne aber fand doch eine Veränderung statt: „Keine Wahl“ prangte plötzlich in großen Lettern am Bug des Theaterschiffes. Und man freute sich, dass das Team von der Volksbühne so ganz nebenbei und ebenso lapidar wie treffend den Zustand der deutschen Sommerdepression 2005 auf den Punkt gebracht hatte – das Gefühl, dass in einer der theoretisch wichtigsten Wahlentscheidung das praktische Spektrum im Angebot eigentlich keine wirkliche Wahl darstellt.

Doch jetzt kann man den Kommentar „Keine Wahl“ fast auch als einen Insiderwitz lesen, denn der Vertrag von Frank Castorf als Intendant des Theaters wurde gerade ohne Diskussionen bis 2010 verlängert. Das leuchtet ein und freut, weil man tatsächlich keine Alternativen wüsste und erleichtert ist, nicht noch ein weiteres Berliner Theater in die Diskussion um Intendanten-Besetzungen in Mitleidenschaft gezogen zu sehen. Dennoch ist auch ein Schuss Resignation dabei, denn längst ist klar, dass auch in der Volksbühne und mit ihrem Konzept als offenes Haus nicht mehr alles zum Besten steht. Vielleicht wird es ein neues Merkmal für dieses Theater, dass seine inneren Befindlichkeiten und Krisen dazu tendieren, zu Metaphern für die Befindlichkeiten und Krisen des ganzen Landes zu werden.

Frank Castorf jedenfalls hat im eigenen Haus in der letzten Spielzeit mehr regiert, als ihm lieb war, und unter der Unfähigkeit, andere Künstler mit anderen Blickwinkeln und anderen Instrumenten der Analyse einbinden zu können, gelitten. Gleich zwei Inszenierungen musste er von erkrankten oder mit dem Ensemble verkrachten Kollegen übernehmen. Seine eigenen Premieren bringt er weiterhin teilweise in Wien oder Zürich heraus, wie zuletzt die vierte Bearbeitung nach einem Roman von Dostojewski, „Schuld und Sühne“, bei den Wiener Festwochen, weil der Haushalt seiner Volksbühne auf Koproduktionen angewiesen ist. Das Haus in Berlin ist ihm manchmal zu groß, die Erwartungshaltungen zu hoch und manchmal vermisst er die Möglichkeit, klein und intim zu werden ebenso wie die, an unbeschriebenen Orten auftreten zu können. Dennoch sieht er keinen Ausweg, als an dem selbst gewählten Gestus festzuhalten, mit einer ständigen Überforderung der eigenen Kräfte im Inneren des Hauses den äußeren Wahnsinn in einer Art Voodoo-Logik zu bannen. So mag der Seufzer „Keine Wahl“ denn auch ein drittes Mal gelten und die Unmöglichkeit meinen, aus dem Triebwerk auszusteigen, dass man selbst so nahe am Rande der Hysterie aufgebaut hat.

Seit 1992, seit Frank Castorf Intendant wurde, war die Volksbühne eine der größten Suchmaschinen für eine linke und intellektuelle Identität in der Hauptstadt. Das Unförmige vieler Inszenierungen, das nicht nacherzählbare Wuchern des Stoffes, die performative Virtuosität der Schauspieler und die epische Breite, in der die Texte und Szenen ständig über die Dramaturgie von wellmade plays hinauslappen, ist so sehr zu einem Markenzeichen des Hauses geworden, dass man darüber zu vergessen neigt, welches Risiko dieses Operieren am offenen Herzen des theatralen Körpers noch immer birgt. Allein, dass die Volksbühne inzwischen mehr über ihre Formen und Rituale denn über ihre Diskurse identifiziert wird, spricht für eine gewisse Ermüdung. Änderung ist allerdings zu erhoffen und zu erwarten, nicht nur, weil mit dem Regisseur Christoph Marthaler, der Choreografin Meg Stuart und der Dramaturgin Stephanie Carp das Team wieder größer wird. Sondern auch, weil die Veränderung der politischen Landschaft wieder für eine schärfere Konturierung der Profile sorgen könnte.

KATRIN BETTINA MÜLLER