Flower-Power-Schulen aus aller Welt …

… treffen sich zu ihrem Weltkongress in Berlin. Sie wollen den radikaldemokratischen Schulen in Deutschland helfen

Der kleine Pfeil heißt „Lehrplan“ und zeigt nach links. Der größere weist in die andere Richtung – und bedeutet „Neugier“. Das ist das provozierende Werbemotiv der 13. International Democratic Education Conference (Idec), die ab morgen in der Humboldt-Universität stattfindet. Schüler, Eltern und Lehrer der Flower-Power-Schulen treffen sich in Berlin, um etwas zur Modernisierung der pisageplagten deutschen Schule beizutragen.

Aus Sicht der Veranstalter ist das bitter nötig. Denn nach dem Verständnis der Erziehungsdemokraten gibt es hierzulande nicht eine einzige wahrlich demokratische Schule. „Demokratische Schulen sind dadurch gekennzeichnet, dass jeder Schüler selbst darüber bestimmen kann, was und wie er lernt“, sagt der Mitveranstalter Mike Weimann vom Berliner Kinderrechtsprojekt Krätzä. „Sie legen gemeinsam mit den Lehrern nach dem Motto ‚Ein Mensch – eine Stimme‘ die Schulregeln fest.“

Ein solch radikaldemokratisches Konzept ohne Noten und feste Unterrichtsstrukturen mag befremdlich erscheinen – in einem Land, dessen Schulen scharf in drei Begabungstypen geteilt sind. Wo Schüler aufgrund zentraler Vorgaben früh nach Leistungen ausgesondert werden.

Die demokratischen Schulen hingegen leben noch immer trotzig von reformpädagogischen Konzepten der Vergangenheit, wie etwa der 1921 gegründeten Summerhill-Schule. Zoe Readhead, die Tochter des Summerhill-Gründers A. S. Neill, wird der bekannteste Gast auf der Idec-Konferenz sein. „Unsere Philosophie“, sagt Readhead, geht von der Freiheit jedes Individuums aus – und sie hat sich nicht geändert.“ Die Kinder mögen sich im Vergleich zu den 30er-Jahren ganz anders kleiden, erzählt die Ikone der Kuschelpädagogik. „Aber sie haben immer noch die gleichen Bedürfnisse: Kinder brauchen es, zu spielen, sie benötigen die Gesellschaft anderer Kinder, Erwachsene, die sie unterstützen, und eine sichere, liebevolle Umgebung.“

Weltweit gibt es mindestens 70 Schulen, vor allem in den USA und Israel, die den harten „demokratischen“ Kriterien genügen. In der konkreten Ausgestaltung von Lernfreiheit, der demokratischen Entscheidungsstrukturen und Offenheit des Schulalltags gibt es freilich deutliche Unterschiede. Einige Schulen bieten Kurse entlang traditioneller Schulfächer an; die Kinder können daran teilnehmen – müssen es aber nicht. Bei anderen, wie den Sudbury-Schulen, wird Unterricht nur auf Initiative der Schüler gehalten. Entscheidungen werden mal mit einfacher Mehrheit getroffen, anderswo nach dem Konsensprinzip. Die Vorstellung allerdings, an diesen Schulen herrsche ein einziges Laisser-faire, ist eine Mär. „Wir haben rund 190 Schulgesetze“, berichtet etwa Zoe Readhead über Summerhill.

In Deutschland tut man sich, trotz niederschmetternder Pisa- und Timms-Ergebnisse, weiterhin schwer mit grundlegenden Schulreformen. Dabei gibt es nicht wenige Indizien, dass die lange geschmähten deutschen Reformschulen, die wie demokratische Schulen auf herkömmliches Pauken und verschärften Leistungsdruck verzichten, erfolgreicher arbeiten als häufig angenommen. Sowohl die Bielefelder Laborschule als auch die Helene-Lange-Gesamtschule in Wiesbaden etwa erzielten gute Pisa-Ergebnisse.

Den Kindern das Lernen selbst in die Hand zu geben, ist eine alte Forderung der Reformpädagogik. Umstritten ist allerdings, inwieweit es sinnvoll ist, den Schülern gänzlich zu überlassen, ob, was und wie sie lernen wollen. So gibt es an der Hannoveraner Glocksee-Schule, der einzigen staatlichen Alternativschule Deutschlands, seit der Gründung im Jahre 1972 zwar viele Projektkurse, keinen 45-Minuten-Takt und auch kein Sitzenbleiben. Doch von anderen Prinzipien der experimentellen Anfangsjahre hat man sich inzwischen verabschiedet: In den Klassen 7 bis 10 wurde ein verbindlicher Stundenplan eingeführt, und im letzten Schuljahr werden Noten vergeben.

Dass man den Kindern „Anlässe für Motivation“ liefern müsse, darauf pocht auch Ernst Rösner vom Institut für Schulentwicklungsforschung an der Universität Dortmund – und das gehe „nicht immer nur auf völlig freiwilliger Basis“. Für Rösner „ist und bleibt Schule eine anstrengende Veranstaltung“, wobei er das durchaus positiv meint: „Wer Sport treibt, setzt sich ebenfalls Anstrengungen aus, und Schule, die keine Anstrengungen verlangt, nicht fordert und fördert, verfehlt nach meiner festen Überzeugung ihr Bildungsziel.“

Die Verfechter demokratischer Schulen weisen diesen Vorwurf von sich: „Wir sind keine absoluten Unterrichtsfeinde“, sagt zum Beispiel Uwe Hartung von der Sudbury-Schule Halle-Leipzig. „Entscheidend ist, dass es bei uns keine Zwangsteilnahme am Unterricht geben wird. Es sind die Schüler, die bestimmen sollen, wann und wie er stattfindet.“ Wenn die Sudbury-Schule Halle-Leipzig am 31. August eröffnet wird, sollen hier 35 Schüler im Alter von 3 bis 17 Jahren nach den libertären Grundsätzen der 1968 in Massachusetts gegründeten Sudbury Valley School lernen – betreut von acht erwachsenen Mitarbeitern, von denen fünf in pädagogischen Berufen ausgebildet sind. Grundprinzip der Schule sei, so Hartung, „das Vertrauen in die Fähigkeit der Schüler jeden Alters, selbst zu bestimmen, welche Themen, Materialien und Personen für ihr Lernen und Leben wichtig sind“.

Dass man den Kindern ihre Zukunft verbaue, weil man an der Schule keinen weiterführenden Abschluss erwerben könne, will Hartung nicht gelten lassen: „Wer will, dem werden wir die Möglichkeit bieten, sich optimal auf externe Prüfungen vorzubereiten.“

Doch die rechtliche Situation der Sudbury-Schule Halle-Leipzig ist weiterhin unklar – damit ähnelt der Fall den vier weiteren Elterninitiativen, die in Deutschland versuchen, Sudbury-Schulen zu errichten. Trotz zunächst zustimmender Bekundungen aus dem Kultusministerium sieht es derzeit danach aus, dass das Regionalschulamt den Betrieb als private Ergänzungsschule ebenso untersagen wird wie die beantragte Befreiung der Kinder von der Schulpflicht. Die Mehrheit der Eltern will sich aber auch von den zu erwartenden Bußgeldern nicht schrecken lassen.

Für den Mitveranstalter des Schulkongresses, Mike Weimann, ist das restriktive Verhalten der Behörden unverständlich, zumal das Grundgesetz die Gründung von Privatschulen ausdrücklich vorsieht. „Mein Wunsch ist es, dass man den demokratischen Schulen wenigstens eine Chance gibt, auch wenn man dafür Verordnungen und Gesetze ändern muss. Man könnte sie zum Beispiel als Modellversuche mit wissenschaftlicher Begleitung laufen lassen.“

Dass gerade das von den demokratischen Schulen verfochtene Lernen ohne Zwang nachhaltig ist, wird auch durch die Erkenntnisse der Hirnforschung bestätigt. Der Mensch sei zwar zum Lernen geboren, vor allem wenn er jung ist, sagt der renommierte Psychiater Manfred Spitzer, doch er mache „seine Sache nur gut, wenn die Sache ihm Freude macht, er den Dingen aus eigener Motivation nachgeht“. Und dass die deutsche Regelschule das angstfreie, zwanglose Lernen fördere, lässt sich wohl kaum behaupten. OLE SCHULZ

13. International Democratic Education Conference (Idec). Der öffentliche Teil der Tagung findet morgen und übermorgen in der Humboldt-Universität Berlin statt. www.idec2005.org