Das Verbrecher-Eldorado von Berlin

Eine Arte-Dokumentation beleuchtet die Geschichte des Rosa-Luxemburg-Platzes. Die Gegend war stets voll von fragwürdigen Existenzen. Die Nazis zogen mit Fackeln auf. Und Erich Mielke hat hier gemordet. Heute warnt die Volksbühne vor Räubern

VON TINA HÜTTL

Der Rosa-Luxemburg-Platz ist weit mehr als die Spielwiese von Frank Castorf, der ihn medial mit seiner Volksbühne beherrscht. Es ist ein Ort, an dem sich deutsche Geschichte bündelt. Denn hier wurde um die Ideen des 20. Jahrhunderts gerungen. Hier ging es um Politik und Weltanschauung, natürlich auch um Kunst, Kino und Theater. Weil aber die bewegte Vergangenheit rund um den Platz für den Spaziergänger bis auf die monumentale Volksbühne beinahe unsichtbar bleibt, erzählt der TV-Sender Arte sie heute in einem sehenswürdigen Dokumentarfilm.

Für „Berlin Ecke Volksbühne“ hat Britta Wauer, Absolventin der Deutschen Film- und Fernsehhochschule in Berlin, die einzelnen Gebäude, Geschehnisse und persönlichen Erinnerungen rund um den Platz fein säuberlich aufgedröselt. Wauer, das wird in dem aufwändig recherchierten Film schnell klar, ist keine Anfängerin. Die Grimme-Preisträgerin liefert mit ihrem dritten Dokumentarfilm eine gelungene Collage aus Interviews mit Anwohnern, Archivaufnahmen, Tondokumenten und aktuellen Beobachtungen.

Die Geschichte des Ortes erzählt sie ganz klassisch – von vorn. Fünfmal in 100 Jahren hat der Platz seinen Namen gewechselt. Vor dem Ersten Weltkrieg galt diese Gegend als eine der übelsten in ganz Berlin. Ein Verbrecher-Eldorado des Lumpenproletariats mit vielen Kneipen und Puffs. Tür an Tür in friedlicher Koexistenz befanden sich Talmudschulen und zionistische Vereine. Denn die Kaiser-Wilhelm-Straße, wie die Rosa-Luxemburg-Straße damals hieß, war auch das Zentrum der Ostjuden, denen das Geld für die Weiterreise in die USA fehlte.

Kurz vor dem Ersten Weltkrieg räumte die Stadt jedoch das Viertel. Viele Häuser wurden abgerissen, mit dem neu entstandenen Babelsberger Platz hatte man Großes vor: Ein Theater für jedermann sollte gebaut werden. Alte Schriftdokumente zeugen von den Spendenaufrufen, denn bezahlen sollte es das einfache Volk. 1914, mitten im Krieg, wurde die Volksbühne schließlich eröffnet. Entstanden war ein Tempel mit Säulen, von Arbeitergroschen gebaut, eine wahre „Weihestätte für die höheren Werte“, erinnert sich ein Anwohner.

Über das Theater und seine Intendanten, Schauspieler und Aufführungen erzählt der Film aber wenig. Stattdessen dokumentiert er mit viel Archivmaterial den Aufstieg der Kommunisten, die am Platz das Karl-Liebknecht-Haus, die Parteizentrale der KPD, bezogen. Die Krawalle mit den ebenfalls schnell anwachsenden Nazi-Anhängern ließen nicht lange auf sich warten. Der Bülowplatz, wie er jetzt hieß, war Berlins Unruhebezirk Nummer 1. Die Polizei griff hart durch. „Für einen erschossen Arbeiter fallen zwei Schupo-Offiziere“ , stand auf der Häuserwand, die ein altes Foto zeigt.

Ein Spruch, der bald Wahrheit wurde, wie die Tochter des erschossenen Polizei-Reviervorstehers Paul Anlauf vor der Kamera berichtet. Elf Jahre alt war sie, als sie die Nachricht vom toten Vater erfuhr – und eine Vollwaise. Ihre Mutter war zwei Monate zuvor gestorben. Ihr Vater blieb bis nach dem Mauerfall ein Politikum, denn seine flüchtigen Mörder hießen Walter Ulbricht und Erich Mielke – der eine bringt es zum Regierungschef der DDR, der andere zum Minister für die Stasi. Doch das kommt später.

Fortan ist die Tochter Paul Anlaufs der rote Faden im Verlauf der TV-Dokumentation. An ihrem Schicksal lässt sich die Historie des Ortes gut erzählen, und damit auch die ganz Deutschlands. Nach der Machtergreifung Hitlers wird ihr Vater ein Held und bekommt eine Statue am Horst-Wessel-Platz, so nannten ihn jetzt die Nazis.

Den eindruckvollsten Moment im Film beschert eine alte Aufnahme vom nächtlichen Fackelzug der Nazis durchs Viertel. Lichter tanzen da in der Dunkelheit, untermalt von einer wunderschönen, schwermütigen Musik. Doch dann kommt die Stimme Jürgen Loewensteins aus dem Off, der als achtjähriger jüdischer Junge das Schauspiel vom Fenster aus beobachtete. Damals endete seine Kindheit, sagt er. Die Nazi-Gesänge „Wenn Judenblut vom Messer spritzt, dann geht’s noch mal so gut“ hat er noch im Ohr. Deutlich wird: Die Ecke an der Volksbühne war nie unschuldig. Es folgen Erzählungen von Deportationen, schließlich Luftaufnahmen von der kriegszerstörten Stadt.

Die Volksbühne war 1945 bis auf die Außenmauern ausgebrannt. Die sowjetischen Besatzer tauften den Platz schließlich nach Karl Liebknecht und hielten die Akten der Polizeimörder unter Verschluss. Bis zur Umbenennung des Platzes in Rosa-Luxemburg-Platz war es nur noch ein kleiner Schritt, den die neue DDR-Regierung vollzog. Auch den Rest der Geschichte erlebt der Zuschauer nun leider im Schnelldurchlauf. Nach der Wende, berichtet da Gregor Gysi, zog die PDS in die ehemalige KPD-Zentrale. Und im privaten Panzerschrank des enthronten Stasi-Chefs Erich Mielke fanden sich die Akten, die nach 60 Jahren zu seiner Verurteilung wegen Polizistenmordes führen.

Zum Schluss schwenkt die Kamera noch mal zur Volksbühne mit ihrem Markenzeichen, dem Wagenrad auf Füßen, das Castorf errichten ließ. Es ist ein altes Räuberzeichen und bedeutet: Vor Überfällen wird gewarnt. Eingeweihte wissen ja nun, diese Gegend war lange Zeit eine der übelsten in ganz Berlin.

„Berlin Ecke Volksbühne“ ist heute Abend um 20.50 Uhr auf Arte zu sehen