Neue Freiheit, neue Gerechtigkeit

Die Erneuerer der deutschen Sozialdemokratie haben zu früh aufgegeben. Denn die SPD hat nur eine Chance, wenn sie die aktive Mitte der Gesellschaft wiedergewinnt

Im modernen Sozialstaat kann sich Gerechtigkeit nicht mehr an der Wahrung des Status quo orientieren

Die SPD war einmal der Zukunft zugewandt. Und das ist noch gar nicht lange her. Im Anschluss an europäische Vorbilder hatte sie sich als deutsche New Labour positioniert, ja sie war den Herausforderungen von Globalisierung, demografischem Wandel und Umbau des Wohlfahrtsstaates selbstbewusst und optimistisch gegenübergetreten.

Die „neue Mitte“ bestimmte die strategische Positionierung, während gleichzeitig die Grundwerte der Sozialdemokratie – Gerechtigkeit stets im Zentrum der Debatte – neu ausgerichtet wurden. Familie und Kinder, Bildung und Chancen, Sozialpolitik der Bedürftigkeit statt der etablierten Ansprüche: Diese und ähnliche Koordinaten entwarfen ein intellektuell überzeugendes Bild einer modernen Gesellschaft in Deutschland, die wieder den internationalen Anschluss finden konnte, ohne soziale Sicherheit und Chancen für weniger Privilegierte preiszugeben.

Hinzu kam: Die Reformer versuchten, der Freiheit einen besonderen Stellenwert zu geben – der Fähigkeit eines jeden zur gesellschaftlichen Teilhabe, zur Übernahme von Verantwortung. Wichtig war nicht die „Freiheit von etwas“, sondern die „Freiheit zu etwas“.

Inzwischen jedoch reibt man sich verwundert die Augen. Was ist aus all dem binnen kurzem geworden ist? Schnell vorbei war die Zeit, in der eine Gruppe jüngerer Abgeordneter, das „Netzwerk Berlin“, programmatische Impulse meinungsführend in ein neues Grundsatzprogramm einzubringen schien. Im Zugang zur Macht wurden die Jüngeren nicht nur von Parteichef Franz Müntefering, sondern auch von ihrem Bundeskanzler immer wieder enttäuscht. Kein Wunder, dass sie wieder unsicher in ihren Positionen wurden.

Jetzt sind wieder klare Feindbilder angesagt: Victory-Kapitalismus. Hier die böse Wirtschaft, die uns terrorisiert, und da das gute Soziale, das wir dagegensetzen müssen – mehr Staat, mehr Umverteilung, höhere Steuern. Der Begriff „Freiheit“ ist in einer frustrierten SPD eher auf dem Weg zu einem Schimpfwort und wird in das Arsenal des politischen Gegners verwiesen. Allenfalls sagt man neuerdings gerne: die Menschen brauchen erst einmal die nötige materielle Ausstattung, um die Chancen der Freiheit überhaupt wahrnehmen zu können.

Nur: Freiheit ist mehr als die Sicherung materieller Ausstattung auf dem Niveau der unteren Mittelschicht, zumal darin – so weit waren die Netzwerker ja längst – keine Gewähr für die Wahrnehmung von Freiheit durch zunehmend soziokulturell desintegrierte Bürgerinnen und Bürger liegt. Also führt der aktuelle Weg vom Vorrang der Freiheit zurück zu einem Primat der Gerechtigkeit. Umso besser, könnte man sagen, denn gerade auf diesem Feld haben sich die Reformer in der SPD als Vordenker betätigt und Weichen für ein neues, zeitgemäßes Gerechtigkeitsverständnis gestellt.

Doch ist dieser Umbau des Sozialstaates zumindest in dreierlei Hinsicht problematisch:

Erstens, die klassische „Verteilungsgerechtigkeit“ taugt weniger als früher. Neue Trennlinien müssen berücksichtigt werden: zwischen den Generationen, zwischen Familien und Kinderlosen oder auch zwischen gut situierten Arbeitnehmerhaushalten und dauerhaft Erwerbslosen und Marginalisierten. „Die“ Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind keine auch nur halbwegs homogene Gruppe mehr, der wegen ihrer vermeintlichen Schwäche vor allem Umverteilung zugeführt werden muss.

Zweitens, die Instrumente der Verteilungspolitik stoßen an Grenzen, wo Transfer nicht mehr bewirkt, dass Marginalität überwunden und Aufstiegschancen genutzt werden können. Deshalb hat das Konzept der Chancen- oder Teilhabegerechtigkeit eine so große Bedeutung gewonnen. Dessen Protagonisten wollen den Sozialstaat von einem „konsumtiven“ in einen „investiven“ verwandeln: in einen Sozialstaat, der einen höheren Anteil von Ressourcen in Chancenpolitik investiert, statt sie im Konsumtransfer verpuffen zu lassen. Dabei stehen Bildung und Schule im Mittelpunkt.

Drittens schließlich: Gerechtigkeit im modernen Sozialstaat kann sich nicht mehr am Maßstab der Statuskonservierung und der erworbenen Ansprüche orientieren. Das hatten die Verfechter der neuen Gerechtigkeit auch erkannt, aber heute müssen sie selbstkritisch einräumen, dass ihre Vorschläge (Hartz IV) bisher nicht so funktioniert haben wie beabsichtigt. Im Gegenteil, sie sind innerhalb kurzer Zeit so fundamental gescheitert, dass als Aushängeschild sozialdemokratischer Gerechtigkeitspolitik nun eine Millionärssteuer herhalten muss.

Dieser Populismus erschwert es enorm, endlich die sozialen Leistungen vom Primat des Transfers auf den der Chanceninvestition umzustellen, den „konsumtiven“ in einen „investiven“ Sozialstaat zu verwandeln.

Feindbilder sind nun wieder angesagt: hier die böse Wirtschaft, die uns terrorisiert,da das gute Soziale

Schließlich erfordert es eine lange Zeitspanne, um die Wirkungen dieser Investition zu sehen, die Früchte in Gestalt neuer Chancen zu ernten. Häufig wird das erst im Übergang der Generationen der Fall sein, nämlich dann, wenn sechsjährige Kinder zehn Jahre später den Schulabschluss schaffen, einen qualifizierten Beruf lernen und ausüben und die eigene Lebens- und Erziehungskompetenz ihren Kindern so zur Verfügung stellen. Mit dieser Langzeitperspektive, das mag ein schwacher Trost sein, hat es nicht nur die SPD schwer. Dass mehr Gerechtigkeit ein Wechsel auf die Zukunft ist, in den wir heute investieren müssen, fällt in allen politischen Lagern gleichermaßen schwer zu erklären.

Die SPD-Reformer jedenfalls sind in der sperrigen Wirklichkeit angekommen – und die hat sie zu früh skeptisch und verzagt gemacht. Auf dem Höhepunkt der programmatischen Reformdebatten im Umfeld des Netzwerks, vor etwa zwei Jahren, konnte man noch eine Ahnung von dem selbstbewussten Kampf um die aktive Mitte der Gesellschaft bekommen. Die SPD sei nie eine Partei des „Lumpenproletariats“ gewesen, hieß es da, sondern eine Bewegung der Menschen, „who work hard and play by the rules“ – Tony Blair und Bill Clinton ließen grüßen.

Doch der Versuch, die Moderne wiederzugewinnen, ist passé. Die Reflexe der Angst, der Schutzsuche vor den Zumutungen einer sich dynamisch und bisweilen bedrohlich wandelnden Welt haben wieder die Oberhand gewonnen. Statt Politik mit der gesellschaftlichen Mitte zu machen, was Zumutungen nicht ausschließt, verengte sich die Perspektive der SPD auf einen Kampf um die Befriedigung der Klienten des Sozialstaats. Am Ende wollte die Partei niemandem zu nahe treten, weder den Transferschichten noch den sozial und kulturell selbständigen Mittelschichten, weder den Kinderlosen noch den Familien, weder den Jungen noch den Alten.

Insofern ist die Gesellschafts- und Sozialpolitik der SPD in der rot-grünen Koalition gerade nicht an sozialer Kälte und Sozialabbau gescheitert, sondern an der Unfähigkeit, konsequent neue Prioritäten zu setzen, und an der unwiderstehlichen Verlockung, den allermeisten mindestens die Wahrung des Status quo zu versprechen. PAUL NOLTE