Disziplin ist nichts, Reden alles

In Berlin streiten die Pädagogen, ob es Kindern hilft, frei über ihr Lernen zu entscheiden

BERLIN taz ■ Als David Gribble vor zehn Jahren sein libertäres Schulprojekt in Ashburn im Südwesten Englands verließ, dachte er: „Es gibt vielleicht drei oder vier echte demokratische Schulen weltweit.“ Nach einer mehrjährigen Weltreise weiß er: „Man kann gar nicht zählen, wie viele Schulen inzwischen den Willen der Schüler in den Mittelpunkt stellen.“ Seit gestern diskutieren viele der pädagogischen Radikaldemokraten in der Berliner Humboldt-Universität. Sie machen dabei die Erfahrung, „dass Demokratie ziemlich anstrengend ist“.

Denn beim Weltkongress der demokratischen Schulen in Berlin, der heute Abend endet, geht es zu wie in diesen Schulen selbst: Es gibt keinen Lehrer, der vorne steht und die Richtung vorgibt; es gibt als Grundgerüst nur einen eher vagen Lehrplan, und der wird schnell mal für ein interessantes Gespräch über den Haufen geworfen. Und es gibt viele Einwände gegen die Schulen, in denen die SchülerInnen alles bestimmen. Über 300 TeilnehmerInnen aus 28 Ländern führten das mustergültig vor.

Was machen die Absolventen eurer Schulen? Sind sie nur glücklich oder auch erfolgreich? Solche Zweifel kontert David Gribble von der Sands-School: Es gebe da eine ältere Studie, die gezeigt habe, dass demokratische Schulen sehr viele Schriftsteller, Künstler, Journalisten und andere Erfolgreiche hervorgebracht haben. Mike Weimann vom Berliner Krätzä-Projekt – jener Gruppe, die ein Wahlrecht für Kinder fordert – ergänzt irritiert, „jeder habe erreicht, was er erreichen wollte“. Und Paula Sell von Weimanns Kinderrechtszänkern sagt trotzig: „Ich finde es schade, dass ich nicht auf einer richtigen demokratischen Schule war.“ Schon jetzt, ein Jahr nach ihrem Abi, merke sie, was sie alles verpasst habe in der normalen Schule, die auf dem Kongress nur verächtlich als Industrieschule oder Ort der Lernbehinderung apostrophiert wird.

Aber so bedingungslos sind sie ja gar nicht, die bedingungslosen Schuldemokraten. Zu den Themen ihrer Arbeitsgruppen gehören nicht mehr nur die vollkommene (Nicht-)Lernfreiheit, sondern auch Fragen nach „dem unverzichtbaren Lernstoff“. Sie diskutieren über die Gefahr der Verirrungen durch Fernsehen und Computerspiele unter schülerbasisdemokratischen Bedingungen oder über die Frage, wohin eigentlich intolerante, aggressive Schulgemeinden das Prinzip der totalen Schuldemokratie entführen können.

Der Weltkongress bietet zudem hochklassige Referenten. Zoe Readhead etwa, die heutige Leiterin von Summerhill, der Mutter aller Alternativschulen. Oder Wilfried Steinert, Bundeselternsprecher und Leiter einer Alternativschule. Oder Hartmut Glänzel, der über seine Hauptschule „Stadt als Schule“ referiert, die aus ganz Berlin einen Ort des spannenden Lernens gemacht hat. Und David Gribble natürlich, der – wie einer seiner Buchtitel besagt – „auf der Seite der Kinder steht“. Laut Gribble sind Disziplin, Lehrplan und Prüfungen unwichtig für die Entwicklung des Kindes. Zentral seien Fürsorge, Respekt und Freiheit. CHRISTIAN FÜLLER