Unten im Tale die Hähne krähn

Im Palast der Republik steht ein Berg. Ein Berg auf Abruf. Ein Anti-Berg. Eine weißblau schimmernde Projektionsfläche für alles, was möglich wäre. Was jetzt schon geht: klettern, pilgern, philosophieren. Eine Reportage vom Bergsteigerweg

VON KIRSTEN RIESSELMANN

Es dämmert schon, als mich der Berg ruft. Vergiss das mit dem Frühtau, beschließe ich, ich ziehe auch gern am Abend. Fallera. Ganz ohne Sorgen und singend aber gelingt es mir nicht, seinem Ruf zu folgen. Denn auf den ersten neugierigen Blick ruft dieser Berg mit einem gar schwachen Stimmchen. Noch gar nicht fertig scheint er, an allen Ecken und Enden wird an ihm herumgezurrt, gewerkelt und geschraubt. Hordenweise umrennen überambitionierte „unpaid interns“ seinen Fuß, Bauleiter sprechen hektisch ins Walkie-Talkie.

Von in sich ruhender Majestät eines atemberaubenden Massivs, alpenglühend in der Abendsonne, habe ich zu früh geträumt. Dieser Berg hier wirkt verletzlich und behauptet an seiner Südflanke sogar ganz spitzbübisch von sich selbst: „Ceci n’est pas une montagne.“ Sein Skelett besteht aus Baugerüst, seine Hänge sind bespannt mit hauchdünnem weißem Fleece-Kunststoff, im Schnellverfahren auf die Gerüststangen heißgeklebt. Ein Berg wie ein hingehuscht gebasteltes Modell aus einem Grundstudiumsarchitekturseminar, das viel mehr nach Schere, Papier und Uhu zu riechen scheint als – nach Ewigkeit. Erst mal Enttäuschung.

Das hier ist ein Anti-Berg, ein Berg auf Abruf, ein Drei-Wochen-Abstraktum, das noch nicht mal genötigt ist, den Unbilden der Witterung zu trotzen! Es hat ein Dach über sich, ein plattes Dach aus vierzehn Jahren DDR, sieben Jahren Leerstand, sechs Jahren Asbestsanierung, zwei Jahren Zwischennutzung – und vielen Jahren Schloss-Zukunft. Da ist es schon fast niedlich, dass dieser Berg denkt, er könne mit seinen mickrigen vierundvierzig Metern Höhe und seinem das Dach durchstoßenden Gipfel eine Protestgeste platzieren und mit utopistischen Vertikalen einen auf crazy Deterritorialisierung machen.

Auf drei Routen soll man ihn, kaum zu glauben, erklimmen können. Für Besinnliche der Pilger-, für Erkenntnisheischende der Philosophenweg. Für Jünger der körperlichen Ertüchtigung und Gemeinschaftserlebnis-Geile empfiehlt sich der Bergsteigerweg. Ich marschiere zur Talstation, verzichte auf das angebotene Gletschereis und löse eine Fahrkarte zum Bergsteigerweg, obwohl ich sowohl gegen Sport als auch gegen Gruppenzwang eine tiefe Abneigung hege. Aber genau deswegen. Wenn schon Berg, dann Challenge.

Ans feste Schuhwerk habe ich gedacht. An der Bushaltestelle wippelt schon ein kleiner Junge in bayrisch Krachlederner ungeduldig an Mamas Hand. Geh’ma auffi! Pünktlich zur Abfahrtszeit läutet die Hostess von „Josef Ziege Reisen“ die Handglocke, und man entert den Bus. Der kurvt, von einem stoischen Fahrer gelenkt, um die Haarnadeln, bis auf über 3.000 Meter. „Auf der rechten Seite sehen Sie die für diese Höhenstufe typische Gebirgsvegetation. Eine besondere Gefahr sind die in letzter Zeit aus den Tierparks ausströmenden Großtiere“, sagt der Busfahrer noch, als auch schon ein Vieh durch die Windschutzscheibe bricht. Besser als Geisterbahn!

Wir Bergsteiger verlassen den Bus sportiv über eine Leiter. Ein Rupert nimmt uns in Empfang, in Karohemd und Österreicher-Zungenschlag. „Ihr seids jetzt a Gruppn, ihr g’hörts zsammen, auf Löabn un Tod!“ Wir seilen uns an; Karabinerhaken klinken sich in Gürtelschlaufen, unsichere Hände umschließen die Rettungsleine. Jetzt sind wir eine Seilschaft, zum Gänsemarsch gezwungen. Rupert heißt uns die erste Gletscherspalte zu durchsteigen, einsames Spanplatten-Weiß umfängt uns. Auf dem schmalen Passweg wird danach gerastet – wir sind schon über der Baumgrenze –, der Bergführer verteilt Creme und Alufolie für die sonnenbrandgefährdeten Nasen. Lange aber dürfen wir nicht verweilen: Bergdiktator Rupert kommandiert uns ab in ein kompliziert verstrebtes Klettergerüst, danach grüßt am Pass von fern die dekadente Großstadt: Schöne Männer in Pailettenhöschen fläzen sich unter Sonnenschirmen, spreizen die Zehen und durchblättern die Vogue. Wir aber müssen weiter, und zwar allein: „Ihr seids deitsch, ihr brauchts jetzt koanen Führer mehr.“

Ängstlich stapfen wir zum Biwak, in dem wir einen Schneesturm überstehen: White-out aus der Nebelmaschine, die Frisuren allenthalben im Arsch. Hernach belohnt uns die Bergwelt mit herrlichen Panoramablicken. Am schönsten Ausguck allerdings zeigt sich unsere Sicherheit von ihrer prekären Seite: Fast werden wir Opfer eines Wandabbruchs, wir fliehen von der sich unheimlich neigenden Felsnase, auf der prophetisch geschrieben steht: „Es ist leichter, ein guter Bergsteiger zu werden als ein alter.“ Wir sind gut genug, um die Berghütte zu erreichen. Aus deren geranienumkränztem Fenster winkt uns die Wirtin schon entgegen. Ein Obstler sorgt für Plauderstimmung, auf rot-weißen Kissen sitzen wir gekauert und schreiben Postkarten mit unseren letzten Grüßen an die Welt im Tal. Ich bin mir sicher, schon kilometerweite Kraxelei hinter mir zu haben, die Orientierung hat mich gänzlich verlassen, das Zeitgefühl auch, der Haken an meinem Gürtel ist mir einzige verlässliche Gewissheit. Der Berg ist jetzt alles.

Wir müssen weiter, begeben uns an den finalen Aufstieg. Meistern noch viele Hindernisse, verlaufen uns, konsultieren den Routenplan und retten einen der unseren aus misslicher Lage. Am Ende dann das Plateau. Draußen. Blick auf den, tja, Schlossplatz, wo die Kirmes lärmt. Schmerzender Abschied von der Bergwelt, die da steht, wo bald auch nur noch Kirmes auf grünem Rasen sein soll. Fast beschämend herzlich löst sich die Seilschaft. Gruppenbildung ist gar nicht so schlecht am bedrohlich bedrohten Berg. Ich laufe schnell und reserviere für nächste Woche ein Zimmer im „Hotel Bergkristall“.

Der Berg im Volkspalast bis zum 26. 8.: Rundwanderweg von 11 bis 23 Uhr; Aufstieg über die drei Wege immer donnerstags bis samstags von 19 bis 23 Uhr, sonntags von 15 bis 19 Uhr. Infos unter www.volkspalast.com. Wanderberichte vom Philosophen- bzw. Pilgerweg nächsten Do. bzw. Fr. in Ihrer taz.