verschiedene hiroshimas
: Nach dem Inferno

Mit dem Abwurf der ersten Atombombe vor 60 Jahren begann ein neues Zeitalter. Der Name der japanischen Stadt Hiroshima steht seitdem stellvertretend für die atomare Massenvernichtung und die Bedrohung der Menschheit durch sich selbst. Das scheint unumstritten. Die Deutung des Ereignisses jedoch wird bis heute oft vom Standort des Betrachters bestimmt. „Japans Hiroshima ist nicht Amerikas Hiroshima“, so formuliert es Florian Coulmas in seinem lesenswerten Buch zu Geschichte und Folgen des Atombombenabwurfs.

Er arbeitet unterschiedliche Perspektiven heraus, die über die üblichen Differenzen zwischen Siegern und Verlierern hinausgehen. So betrachtet er auch die widersprüchliche Wahrnehmung des atomaren Infernos zwischen Hiroshima und Tokio oder zwischen US-Intellektuellen und ihrer Regierung. Zugleich setzt er sich kritisch damit auseinander, wie mit den Opfern seitens der US-Besatzer und des japanischen Staats umgegangen wird.

Der Japanologe Coulmas, zurzeit Direktor des Deutschen Instituts für Japanstudien in Tokio und zuvor Professor an der Universität Duisburg-Essen, kommt zum Ergebnis: Militärische Gründe für den Einsatz der Atombombe spielten kaum eine Rolle. Wichtiger sei das politische Motiv gewesen. Denn es galt gegenüber der Sowjetunion Stärke zu zeigen. Zudem wollten die USA auch die gigantischen Kosten des Rüstungsprojekts in der Praxis rechtfertigen. Und nicht zu vernachlässigen ist auch eine auf rassistische Motive basierende Bereitschaft zur Dehumanisierung der bereits geschlagenen Japaner.

Coulmas setzt sich mit dem Gedenken in Japan und den USA auseinander sowie der jeweiligen kulturellen Verarbeitung in Kunst, Film und Literatur einschließlich Schulbüchern. Dabei hält er auch uns Deutschen den Spiegel vor. Denn in der Nachkriegszeit waren wir entweder kaum in der Lage, das Geschehen wirklich zu begreifen, oder wir haben in der Bundesrepublik allzu leichtfertig die offizielle US-Sichtweise übernommen.

In Japan förderte die von den Amerikanern nach dem Krieg verhängte Zensur vor allem eines: Große Teile des Inselvolks sahen sich in erster Linie als Opfer des Krieges und nicht als Täter. Es kam hinzu, dass sieben Jahre lang in Japan nicht von der Bombe und ihren Folgen berichtet werden durfte. Sie löste sich im Bewusstsein vieler vom Krieg, ja sie „machte Hiroshima zu einem Ereignis ohne Urheber“, so Coulmas, und förderte in Japan die Bereitschaft, den ganzen Krieg als Ereignis ohne Urheber zu sehen.

Umgekehrt assoziierten die Amerikaner mit der Atombombe ihren Sieg und verdrängten so den Schrecken des Massenmordes. Der Abwurf der Bomben auf Hiroshima und Nagasaki ist für die meisten Amerikaner kein Unrecht, da sie den ihnen aufgezwungenen Krieg für gerecht halten und somit auch den Einsatz der Atombomben für gerechtfertigt. „Möglich ist das, da der Begriff des gerechten Krieges den Unterschied zwischen Anlass und Durchführung verwischt“, meint Coulmas.

Zum Schluss verweist der Autor darauf, dass ursprünglich von Amerikanern im Zusammenhang mit der Bombe benutzte Begriffe wie „Holocaust“ oder „Ground Zero“ heute mit ganz anderen Inhalten verbunden werden. Holocaust steht heute für die Massenvernichtung der Juden durch das nationalsozialistische Deutschland. Und Ground Zero, ursprünglich der Punkt unter einer Atombombenexplosion, meint seit dem 11. September 2001 das durch die Terroranschläge zerstörte World Trade Center in New York. Umgekehrt sei es für die meisten Amerikaner, die am Konzept des gerechten Kriegs festhalten, völlig inakzeptabel, die Atombombenabwürfe als Terror zu bezeichnen.

Coulmas ist mit seiner insgesamt erfreulich knappen Darstellung nicht nur eine gute Übersicht über die damaligen Ereignisse und den Umgang mit ihnen gelungen, sondern auch eine gute Einordnung, die auf aktuelle Debatten Bezug nimmt.

SVEN HANSEN

Florian Coulmas: „Hiroshima. Geschichte und Nachgeschichte“. Beck’sche Reihe, München 2005, 138 Seiten, 9,90 Euro