Leere Bäuche, leere Köpfe

Die internationale Hungerhilfe für Niger rollt. Ist das überhaupt gut so? Niger beweist: Ja. Zum Glück haben sich die Skeptiker, die mehr Entwicklungshilfe für Afrika ablehnen, diesmal nicht durchgesetzt

von DOMINIC JOHNSON

Als Tony Blair und Bob Geldof vor einem Monat für eine Verdoppelung, wenn nicht gar Verdreifachung der Entwicklungshilfe für Afrika warben, war die Skepsis in Deutschland groß. Afrika habe doch schon so viel Geld gekriegt und sei immer noch arm; mehr Geld löse also kein Problem, lautete der Tenor zahlreicher Entwicklungsexperten und auch der Bundesregierung.

Kaum war G 8 vorbei, verdreifachte Deutschland dann plötzlich seine Hungerhilfe für den westafrikanischen Sahelstaat Niger. Der Grund: eine beginnende Hungersnot, mit fürchterlichen Bildern spindeldürrer und sterbender Kleinkinder. Der Skandal: Nigers Katastrophe war vorhersehbar gewesen, denn dass dem Land nach UN-Angaben dieses Jahr 36 Prozent seines Grundnahrungsmittelbedarfs fehlen, liegt an einer Dürre und einer Heuschreckenplage im letzten Jahr. Man hätte schon damals reagieren müssen – aber Hilfsappelle von Niger und UNO kamen zu leise und verhallten ungehört. Übrigens auch beim G-8-Gipfel. Und bei Live-8.

Was nun also? Mehr Hilfe für Afrika oder nicht? Ganz eindeutig: mehr. UN-Untersuchungen in Nigers Hungergebieten ergeben: Jedes fünfte Kleinkind ist unterernährt, jedes 25. akut – „Raten wie in Kriegsgebieten und den schlimmsten Notgebieten der Welt“, erklärte die Koordinationsstelle der UN-Hilfe letzten Freitag. Sie revidierte ihren Hilfsappell für Niger nach oben – von 16 auf 81 Millionen Dollar, eine Verfünffachung. Der deutsche Beitrag liegt derzeit bei drei Millionen Euro, eine Versechsfachung seit Anfang Juni, rechnete Bundesentwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul gestern in Berlin vor und stellte klar: „Wir können und werden jederzeit zusätzliche Hilfe leisten, wenn die Verantwortlichen das für nötig halten.“ International sind bereits 52,5 Millionen Dollar für Niger zusammengekommen.

Die Skeptiker geben nicht auf. Es gebe gar keine richtige Hungersnot in Niger, berichtet beispielsweise die FAZ – die Leute da hungern sowieso andauernd, also sei die Notlage jetzt nichts Besonderes. Andere streuen, Nigers Regierung habe ihre Lebensmittelreserven verschwendet und wolle sich nun mit fremder Hilfe aus der Affäre ziehen. Aber ist das ein Grund, nicht zu helfen – oder belegt es nicht eher, dass gute Hilfe nicht auf die Katastrophe warten darf, wenn teure Nothilfe eingeflogen werden müssen, sondern frühzeitig ansetzen muss? Wer immer wieder laut bezweifelt, ob Entwicklungshilfe überhaupt nötig ist, verhindert genau diese frühzeitige Hilfe, die nicht erst darauf wartet, dass Kinder vor TV-Kameras verhungern.

Niger beweist: Die Ablehnung von mehr Geld für Afrika ist perfide und schädlich. Und sie kommt teuer. Hätte man in Niger schon letztes Jahr rechtzeitig geholfen, wäre das Überleben eines Kleinkindes durchschnittlich mit weniger als einem US-Dollar zu gewährleisten gewesen, rechnet die UNO vor. Heute, wo das Kleinkind kurz vor dem Verhungern steht, kostet seine Rettung 80 Dollar. Nothelfer stehen in Niger vor grausamen Entscheidungen: Wenn ein Kind noch nicht sterbenskrank ist, sondern bloß nichts zu essen hat, kommt es nicht in die Notaufnahme. So müssen wohlernährte Helfer einer Mutter ohne Geld und Essen erklären, dass ihr schreiendes Baby nichts kriegt, weil es noch kräftig genug zum Schreien ist. Denn es gibt nicht genug für alle. So manchen, der einfach helfen wollte, haben solche unmenschlichen Situationen in den Wahnsinn getrieben.

Dass es auf Nigers Märkten Essen zu kaufen gibt, ist kein Indiz dafür, dass es keine Hungersnot gibt. Hunger bedeutet nicht, dass es nichts zu essen gibt, sondern dass man es sich nicht kaufen kann. Hungerhilfe bedeutet, dafür zu sorgen, dass auch Leute ohne Geld an Essen kommen. Man braucht dafür keine medienwirksamen Hilfsflüge mit Überschussgetreide aus den USA und der EU. Man braucht Hilfsstrukturen mit Geld, die das lokal und regional verfügbare Essen kaufen und an die Bedürftigen verteilen. Man braucht zugleich einen Staat, der verhindert, dass diese Einkäufe zu Preistreiberei führen. Und dann muss dafür gesorgt werden, dass die nächste Ernte besser wird als die letzte. Und die danach wieder.

Der Kampf gegen Hunger geht auch dann weiter, wenn keine Kleinkinder mehr vor TV-Kameras sterben. Es geht um Rückgewinnung von Wüste, um bessere Anbautechniken, um Trinkwasserversorgung, um Basisgesundheit, um Bildung für Mütter. Für all dies braucht man die Bereitschaft, mit den Menschen vor Ort gemeinsam deren Lebensperspektiven kennen zu lernen und an ihrer Verbesserung zu arbeiten. Das ist richtige Entwicklungshilfe. Sie braucht Expertise und Geduld. Und Geld. Viel Geld.