Berliner Ökonomie
: Von einem Ort zum anderen

Die einen müssen gehen und wollen nicht, die anderen wollen gehen und können nicht: jeder Tag ist nomadischer Wandertag

Fünfmal bin ich bisher ausgewandert: nach Schweden (wegen der Bundeswehr), nach Portugal (wegen der Nelkenrevolution), nach Paris (aus Perspektivlosigkeit), nach Süden (aus Heimathass), nach Italien (aus Liebeskummer). Jedes Mal bin ich reumütig wieder zurückgekehrt. Damit liege ich voll im Trend. Zwar verhielten sich meine Fluchtversuche antizyklisch, insofern sie zu ökonomisch prosperierenden Zeiten, in gewisser Weise sogar gerade deswegen geschahen; aber nun haben wir im Gefolge von Warenglobalisierung, Deindustrialisierung und Sozialstaatsverschlankung eine Auswanderungswelle, die genauso hoch ist wie die zu Zeiten der Massenauswanderung im 19. Jahrhundert.

Ironischerweise versucht man dem Braindrain nach draußen mit immer mehr Anreizen zum Kinderkriegen entgegenzuwirken sowie mit einem immer rigoroser durchgesetzten Einwanderungsverbot. 150.000 Deutsche verließen laut Spiegel allein 2004 ihr Land, „doch anders als damals kehren 100.000 wieder zurück“. Die Ziele sind Norwegen, Österreich, die Schweiz und nach wie vor die USA, aber Polen, Tschechien und sogar Russland sind im Kommen. Die Zeit ist nicht mehr fern, da die EU zusammen mit Russland Großbauprojekte in Sibirien plant, um den Arbeitsplatzabbau hier mit Erschließungsmaßnahmen dort zu kompensieren.

Der kasachische Botschafter sowie die Gouverneure von Swerdlowsk und Nowosibirsk riefen bereits in Berlin die Arbeitslosen dazu auf, zu ihnen zu kommen, weil dort „Kadermangel“ herrsche. Sogar in den entlegendsten Kolchosen – der Ewenken auf der Halbinsel Jamal etwa – sind heute Mitteleuropäer beschäftigt. Und einige elsässische Zimmerleute trieben über nomadische burjatische Handwerkskollektive bereits bis in die äußerste Mongolei ab. Eine Gruppe von Prostituierten aus Schöneberg arbeitete sich über Kassel und Macao bis nach Hinterasien durch.

Ein kurzer Anruf bei einigen Botschaften in Berlin ergab, dass fast alle mit Anfragen nach Auswanderungsmöglichkeiten überhäuft werden. Neulich machte die Texterin einer großen Werbeagentur Ernst, der wir den American-Express-„Funkspot“ und die Maggi-„Fünfminutenterrine“-Clips zu verdanken haben. Sie kündigte und „geht jetzt nach Indien“, um dort was anderes zu machen. Ihre mit Wind-, Sonnen- und Verrottungsenergie großgezogene Tochter ist schon da, allerdings in einer anderen Mission: als Ökoexpertin. In Westberlin gab es mal so viele „Indienfahrer“ und Heimkehrer von dort, die hier anschließend manisch-depressiv wurden, dass man im Urbankrankenhaus eine eigene Reintegrationsgruppe für sie aufmachte. Die Provence-, Pyrenäen- und Toskana-Flüchtigen machten dagegen durchweg einen ausgeruhten Eindruck – als sie wieder zurückkehrten.

Dieser hielt jedoch nicht lange an. Seit der Wiedervereinigung, mit der das allgemeine Absinken des Lebensstandards für jeden „fühlbar“ wurde, bieten sich nun preisgünstig die „kleinen Fluchten“, wie einmal ein Landfilm hieß und nun ein Reisebüro, an: ins Umland. Über Vorpommern und das Stettiner Land hat sich das „Gorlebensgefühl“ (Spiegel) bereits bis ins Dreiländereck und nach Böhmen ausgebreitet. Umgekehrt gilt jedoch dasselbe. Wir haben es hier schon fast mit einer kleinen Völkerwanderung zu tun, deren Ströme die Staaten ständig zu drosseln versuchen, während das noch viel flüssigere Kapital sie forciert. Die Dekomposition der Klassen erzwingt daneben auch von unten neue Bleiberechte, internationalisierte Familienzusammenführungen, Scheidungen, Adoptionen, etc. Hierbei häufen sich nun die Klagen und Beschwerden: z. B. darüber, dass bei einem deutsch-chinesischen Schüleraustausch des Salem-Internats und des Kollegs St.rBlasien den Chinesen laut FAZ „die Visa verweigert“ wurden.

Aus Grünstadt berichtet der mit einer Inderin verheiratete Polizeibeamte Joachim Specht, wie die deutschen Behörden seinem Schwager unbegreiflicherweise die Einreise verweigerten – und dafür noch jede Menge Gebühren kassierten. Ähnliches passierte der Schwiegermutter von Wladimir Kaminer. Selbst mongolischen Reiseunternehmern verwehrte man einen Stand auf der Internationalen Tourismusbörse (ITG) – obwohl sie ihn schon bezahlt hatten.

Aus einem bayerischen Knast bittet uns Ivan Miloloza, sich „für ihn einzusetzen, da ich in meine Heimat Kroatien nach Osijek abgeschoben werden möchte, weil ich keine Zukunft in diesem Land mehr habe, jederzeit können die korrupten Beamten erneut etwas fälschen und nicht nur mich wieder einsperren“. Helena verweigerten sie das Zusammenleben mit ihrer Tochter hier mit der Begründung: diese werde bald 16 und könne deswegen allein in Odessa leben. Ihre Mutter fing vor lauter Kummer an zu trinken. Jens versuchte zwei Jahre lang, seine Freundin aus Minsk zu heiraten, dann gaben die beiden auf: „Wir haben den Papierkrieg erst mal verloren!“

HELMUT HÖGE