Meine ungerechte Enttäuschung

Political Studies (VI): Wie man zum Wahlzyniker wird und den Aufmarsch der alten Männer (und der einen Frau) nicht mehr ernst nehmen kann

■ Wie immer die Neuwahlen ausgehen – auf dem weiten Feld zwischen Politik und Leben hat sich etwas verschoben. Was kann Politik, was soll sie können, was nicht? In unserer Serie „Political Studies“ überlegen AutorInnen, welche Rolle Politik in ihrem Leben spielt, ob die offizielle Politik das Politische noch repräsentiert

VON WILHELM GENAZINO

Regierungen sind für mich vorübergehende Zusammenrottungen alter Männer zwecks Weitergabe veralteter Probleme an andere alte Männer. Seit rund vierzig Jahren (seit ich das Treiben der alten Männer verfolge) höre ich davon, dass wir eine neue Familienpolitik brauchen, dass wir die Steuerbürokratie vereinfachen müssen, dass wir ohne eine neue Bildungspolitik nicht weiterkommen, ebenso ohne eine neue Sozial- und eine neue Verkehrspolitik, und so weiter. Wenn die alten Männer der alten Probleme überdrüssig werden, erfinden sie sich neue, zum Beispiel die Rechtschreibreform – und die melancholische Wadenbeißerei geht von neuem los. Der grauenvolle Anblick der Reformruinen hat aus mir einen Wahlzyniker gemacht: Ich kann den Aufmarsch der Kandidaten nicht mehr ernst nehmen. Dann und wann merke ich, dass meine Distanz eine erzwungene ist.

Neulich, bei der Beerdigung von Peter Boenisch, durchlebte ich ein paar schmerzliche Augenblicke, die mir wieder klar machten, dass mein Hohn auf die alten Männer eine Tarnbeschäftigung ist, die mich nur vor dem Kollaps des Schmerzes bewahren soll. Ich sah und las und hörte, dass Gerhard Schröder bei der Bestattung dabei war und plötzlich so tat, als werde hier eine Art Staatsmann beerdigt, dem man seinen Respekt nicht vorenthalten kann. Ich fragte mich, ob Gerhard Schröder wirklich vergessen hatte, dass Peter Boenisch einer der vielen Schmutzschreiber war, die sich über Jahrzehnte hin bei der Springerpresse austoben durften. Ich glaube nicht, dass Schröder Boenischs elende Machwerke vergessen hat. Es ist wahrscheinlich so, dass Schröder zurzeit selbst in einem Staubloch zu überleben sucht und deswegen nicht davor zurückschreckt, mit den Wölfen zu heulen. Ein Maulheld geht zur Beerdigung eines anderen Maulhelden – das ist alles.

Dabei war ich Schröder und den Seinen einmal gut gesonnen. Ich habe ihnen einmal richtig viel Weitblick gewünscht, zum Beispiel bei der Einführung der Hartz-Gesetze. Meine Fürsorge war realistisch angelegt: Wenn man einen Großteil einer Bevölkerung so einfach mir nichts, dir nichts in die Armut schickt, dann muss man diesem Bevölkerungsteil auf der politischen Ebene ein Kompensationsangebot machen. Fällt die Kompensation aus, wird das für die Leute so sein, als hätte ihnen jemand das Weihnachtsfest gestrichen. Genau dieses Gefühl ist heute unter zu vielen Deutschen verbreitet: Die Berliner Finsterlinge behalten die Geschenke für sich. Allein wegen dieser politischen Dummheit (nicht einmal wegen ihrer Folgen) werden sie abgewählt werden müssen.

Natürlich übertreibe ich. Beziehungsweise: Meine Enttäuschung macht mich ungerecht. Weil die alten Männer so wenig zustande kriegen, beobachte ich ersatzweise ihr Privatleben beziehungsweise das, was die Medien davon an uns weiterleiten. Dann höre ich, dass Joschka Fischer – auch er inzwischen ein alter Mann – zum vierten oder fünften Mal eine junge Frau heiratet. Mich geht das Privatleben von Fischer nichts an, aber natürlich fällt mir auf, dass alte Männer, die sich zum wiederholten Mal im Lebensalter vergreifen, nichts anderes als Melancholieverweigerer sind, die nicht hinnehmen können, dass bestimmte Sachverhalte nicht weiter verdrängt oder geleugnet werden können, sondern anerkannt werden müssen. Fällt nicht auch anderen auf, dass Fischer starrsinnig und wirklichkeitsmüde geworden ist, kurz vorm Absprung in den Buddelkasten für alte Männer?

Zum Glück gibt’s wenigstens Guido Westerwelle. Mit ihm beginnt der unterhaltende Teil der Wirklichkeit, obgleich Westerwelle noch immer nicht wahrnimmt (siehe Fischer!), dass man ihn nicht ernst nimmt. Man kann, glaube ich, Westerwelle nachts um drei Uhr wecken, und er gibt sofort ein Statement von sich, zu welcher Frage auch immer. Guidos Statements haben aus der FDP derweil ein Ein-Mann-Kasperle-Theater gemacht, für das nicht einmal die FDP noch Beifall klatschen möchte.

Bleibt die arme Angela Merkel. Sie tut mir inzwischen fast schon leid. Treuherzig spricht sie von Ludwig Erhard, ohne zu ahnen, dass Erhards Schicksal auch das ihre werden wird. Die CDU wird sie abbauen, egal, ob sie Kanzlerin oder Oppositionsführerin werden wird. Die CDU hat schon an ihrer Frisur so lange herumgemeckert, bis Angela Merkel endlich nachgab und jetzt genau so schmuck ausschaut wie Petra Gerster. Es wird ihr nichts nützen.

Denn Angela Merkel hat noch etwas Unannehmbareres, etwas Unaustauschbareres als ihre Frisur, und das ist ihre flache, piepsige, lächerliche Stimme. Die Stimme reicht für eine Lehrerin oder für eine Landrätin, für mehr nicht. Man könnte es ihr jetzt schon sagen, aber die CDU ist feige und wartet, wie sie immer gewartet hat, bis ein Problem von selber aufweicht und sich ohne größeres Zutun von selber entsorgt.

Wilhelm Genazino, Jahrgang 1943, ist Schriftsteller und lebt in Frankfurt am Main. Zuletzt erschien von ihm im Hanser Verlag der Roman „Die Liebesblödigkeit“