Versuch übers Quatschen

Harry G. Frankfurt, Moralphilosoph aus Princeton, liefert in „On Bullshit“ eine Theorie fürs Funktionieren von Buzz und Bush und hat damit in den USA einen Bestseller gelandet

von DANIEL SCHREIBER

Präsidentschaftskandidat John Kerry stand vor einem großen Problem, als er im November letzten Jahres gegen George W. Bush antrat: Konnte er behaupten, dass Präsident Bush ein Lügner sei? Die ganze Welt wusste, dass es von den Massenvernichtungswaffen, für die Amerika in den Irakkrieg gezogen war, keine Spur gab und dass viele Geheimdienstberichte, die deren Existenz bezeugen sollten, schlichtweg erfunden waren. Aber hatte Bush tatsächlich wider besseres Wissen gelogen?

Die Antwort auf Kerrys Dilemma lässt sich in einem kleinen philosophischen Bändchen finden, das in Amerika Verkaufsrekorde bricht. Harry G. Frankfurt, eine 76-jähriger, emeritierter Professor aus Princeton, hat das beinah Unmögliche vollbracht: Er hat ein streng akademisches Traktat geschrieben, das sich seit achtzehn Wochen auf den Top Ten aller Bestsellerlisten des Landes tummelt. Der Ausgangspunkt seines nur 67 Seiten langen Büchleins ist die Frage nach einem Phänomen, das für den Philosophen eine der hervorstechendsten Eigenschaften unserer Kultur darstellt: das Blödsinnquatschen, das Rumpalavern, das Heiße-Luft-Produzieren – oder schlicht „bullshitting“, wie man es so schön prägnant im Englischen ausdrückt.

Natürlich ist der Publikationserfolg von „On Bullshit“ zu einem gewissen Grad auf seinen griffigen und provokanten Titel zurückzuführen, der die Grenzen des puritanischen Anstands in den USA so sehr verletzt, dass er in den meisten Rezensionen und TV-Auftritten des Professors durch vier Gedankenstriche ersetzt oder ausgebeept wird. Seitdem der Essay 1986 zum ersten Mal in einer kleinen philosophischen Zeitschrift veröffentlicht wurde, hat er sich vom Geheimtipp in popintellektuellen Zirkeln zum richtiggehenden Breitenphänomen entwickelt. Denn er argumentiert mit Hilfe von Wittgenstein und St. Augustin stringent auf etwas hin, das die gebildete Öffentlichkeit Amerikas immer mehr frustriert.

Frankfurt hat seine akademischen Meriten mit schnörkellosen, moralphilosophischen Abhandlungen über praktische Vernunft, Ethik und Liebe gesammelt. Im neuen Band konstatiert er nonchalant, dass mit der Aufblähung der Medienlandschaft auch der Blödsinn, mit dem man konfrontiert ist, zugenommen hat. Solcherlei irreleitendes Palaver sei unvermeidbar, wenn die Umstände von jemandem verlangen, über ein Thema zu sprechen, das seinen Sachverstand übersteigt. Ohne dass Frankfurt konkrete Beispiele zu benennen braucht, denkt man da sofort an die Ersatznachrichten auf vielen TV-Kanälen, an den omnipräsenten Hype um Pseudoereignisse und natürlich an die allzu gegenwärtigen Spindoktoren in der Politik.

Der springende Punkt sei dabei, dass Bullshit im Gegensatz zur Lüge keinen Referenzpunkt in der Wahrheit mehr hat, was Frankfurt für schlimmer hält als Lügen. Während sich der Lügner der Fakten sehr wohl bewusst ist, wenn er sein Gegenüber täuscht, verweigert sich der Bullshit-Künstler den Maßgaben des Wahren komplett. Alles, was für ihn zählt, ist es, die Situation so glatt und erfolgreich wie möglich zu meistern. Aber je mehr Aussagen nur mit dem Augenmerk darauf gemacht werden, was in einem Moment am besten passt, so der Philosoph, desto stärker würde unsere Angewohnheit eingeschränkt, die Welt nach ihren realen Umständen zu beurteilen.

Was Frankfurt untersucht, sind die rhetorischen Implikationen des Phänomens. Aber gelesen wird es von den meisten als Kommentar auf die Medienspektakel und die politischen Potemkin-Dörfer, als Erklärung von Buzz und Bush. MitHilfe des Büchleins lässt sich so zumindest ein Grund für John Kerrys Misserfolg verstehen: Er war kein überzeugender Bullshit-Künstler. Während die Wahrheit für Präsidenten wie Nixon zu gefährlich war, um sie an die Öffentlichkeit kommen zu lassen, war sie für Bill Clinton eine Herausforderung, die es imagepflegerisch zu bewältigen galt. Für die Bush-Regierung aber scheint sie nur noch langweilig und von herzlich wenig Belang zu sein. Einem politischen Klima, in dem die Wahrheit keine tragende Rolle mehr spielt, ist mit herkömmlichen rhetorischen Mitteln nicht beizukommen.

Was dem Philosophieprofessor am meisten zu bedenken gibt, ist unsere tolerante Haltung zum blöden Rumgequatsche. Eine Lüge fassen wir als Affront auf, wenn wir sie als solche entlarven. Bullshit könnte uns in derselben Situation kaum gleichgültiger lassen. Das von allen halbseidenen Wahrheiten unangetastete Image von George W. Bush zeigt, dass dies auch auf der großen medialen Bühne so funktioniert. Für einen politischen Gegner hilft es da nur, ein besserer Bullshit-Künstler zu sein. Das jedoch, mag man Frankfurts Essay anmerken, ist vielleicht das größte Problem des Bullshit: Er ist ansteckend. Er hält fast jeden dazu an, sich vom Wirklichen zu entfernen und nicht an die Unterschiede zwischen wahr und falsch zu denken.

Harry G. Frankfurt: „On Bullshit“. Princeton University Press 2005. 9,95 US$