Krach um Pillenwucher

Betriebskrankenkassen: Ärzte sind schuld an der Explosion der Arzneimittelkosten, höhere Beiträge sind gar nicht nötig. Ärztelobby fordert bessere Informationen

BERLIN taz ■ Ist derzeit von der gesetzlichen Krankenversicherung die Rede, geht es vor allem um eine Reform der Einnahmen. Bürgerversicherung oder Kopfpauschale, so lautet die viel debattierte Wahlkampf-Alternative. Aus dem Blick gerät dabei die Kostenseite des Gesundheitswesens. Doch die Ausgaben für Arzneimittel drängen jetzt mit Wucht ins öffentliche Bewusstsein zurück.

Denn diese sind im ersten Halbjahr 2005 um knapp 1,9 Milliarden Euro gestiegen. Das sind im Vergleich zum Vorjahr – in dem die Kosten erstmals seit 1997 wieder sanken – fast 20 Prozent mehr. Einige Kassen haben bereits Beitragserhöhungen angedroht. Dem widersprach gestern der Chef des Bundesverbandes der Betriebskrankenkassen, Wolfgang Schmeinck. Eine Beitragserhöhung sei unnötig, sagte der BKK-Chef – und betonte erneut die Verantwortung der Ärzte für die Kostenexplosion.

Der Hintergrund dabei: Seit 2002 sind Ärzte und Kassen für die Ausgabensteuerung selbst zuständig. Mit der Zusage, dies zu übernehmen, hatten die Ärzte die Aufhebung der gesetzlichen Arzneimittelbudgets durchgesetzt. Vor zwei Wochen waren Gespräche zwischen den Krankenkassen und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) über eine Kostendämpfung gescheitert. In der kommenden Woche geht das Ringen in eine neue Runde. Und dafür wird öffentlicher Druck aufgebaut. Auch aus dem Bundesgesundheitsministerium. „Ich erwarte von der Ärzteschaft und den Kassen, dass sie das, was gemeinsam vereinbart worden ist, besser umsetzen, als sie das bisher gemacht haben“, sagte gestern Staatssekretär Klaus Theo Schröder (SPD).

Entscheidend für den Anstieg der Arzneikosten sind laut BKK drei Faktoren: Zum einen seien größere Mengen verschrieben worden. Auf rund acht Prozent bezifferte der BKK-Chef die Ausweitung. Die Gründe dafür seien „nicht nachvollziehbar“, so Schmeinck. Zum zweiten sank der Rabatt, den die Pharmaunternehmen den Kassen gewähren, zum Jahresbeginn von 16 auf 6 Prozent. Das macht nach Angaben des Apothekerverbands allein 460 Millionen Euro an Mehrkosten aus.

Als „besonders ärgerlich“ aber kritisierte Schmeinck die Verschreibung von so genannten patentgeschützten Analogpräparaten, die 16 Prozent des Umsatzes ausmachen. Das sind Medikamente, die zwar chemisch teils neue kombiniert sind, aber ebenso wirken wie bekannte Mittel. Weil sie aber unter Patentschutz stehen, sind sie mit 75 Euro doppelt so teuer wie andere durchschnittliche Verordnungen. Die Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) müssten auf die Verschreibungspraxis Einfluss nehmen, forderte Schmeinck.

Ein Modellversuch in Nordrhein-Westfalen, bei dem 250 Ärzte besonders beraten wurden, habe gezeigt: „Für jeden Euro, der dort in die Ärzteberatung gesteckt wurde, wurden vier Euro bei den Arzneimitteln gespart“, so der BKK-Chef. Den Einfluss der Ärzte auf die Arzneimittelausgaben zeige auch ein Vergleich zwischen den einzelnen KVen. Während in Berlin die durchschnittliche Verordnung mit 46,13 Euro zu Buche schlage, seien es im Saarland 35,65 Euro.

Zum alleinigen Sündenbock wollte sich die KBV gestern nicht machen lassen. Sie forderte die Kassen auf, ihren Teil der Verantwortung zu übernehmen. „Informationskampagnen für die Versicherten und das Bereitstellen arztindividueller Daten für alle KVen“, so KBV-Vorstandsmitglied Ulrich Weigeldt, „stehen nach wie vor aus.“ SABINE AM ORDE