Da reicht ein einziger Blick

Zwei Paar Füße stehen auf einer Waage und doch zeigt sie kein Gewicht: Leicht wie Geister sind die Liebenden in dem neuem Film „Bin Jip“ des koreanischen Regisseurs Kim Ki Duk. Seine namenlosen Helden nisten sich in fremden Leben ein und lassen das Alltägliche mit Erstaunen sehen

VON ANKE LEWEKE

Er ist ein Einbrecher, und doch scheint er nichts Unrechtes oder Indiskretes zu tun. Er klaut nichts. Und er zerstört auch nichts. Nur: Was sucht der junge Mann in den Wohnungen, in die er Tag für Tag eindringt? Zunächst legt er eine CD ein. Dann inspiziert er den Kühlschrank und kocht sich ein kleines Gericht. Er beginnt sogar, die schmutzige Wäsche der Bewohner zu waschen. Auch nimmt er sich kaputter Haushaltsgeräte an, repariert eine Küchenuhr oder eine Badezimmerwaage. Es ist diese Sorgfalt, die Ernsthaftigkeit, mit der er alltägliche Dinge verrichtet, die den Zuschauer genauer hinschauen lässt.

So entsteht in „Bin Jip“, dem neuen Film des Koreaners Kim Ki Duk, ein merkwürdiger Effekt. Plötzlich sieht man die banalen Handgriffe und Tätigkeiten mit anderen Augen, da sie für den Eindringling eben nichts Alltägliches sind. Vielmehr leiht er sich seinen Alltag von den Besitzern der fremden Wohnungen, richtet sich für die Dauer ihrer Abwesenheit in deren Existenz ein. Kim Ki Duks Held mit den sanften, engelsgleichen Gesichtszügen führt ein Leben in der Lücke, im Unsichtbaren.

Auch in seinem neuen Film konfrontiert der koreanische Regisseur den Zuschauer mit einem geheimnisvollen Menschen ohne Geschichte, ohne Biografie. Dennoch fühlt man sich diesem Namenlosen, der aus dem Nichts zu kommen scheint, seltsam verbunden. Vielleicht weil er von einer großen Sehnsucht getrieben wird. Weil er nach Nähe und Zusammengehörigkeit sucht, nach einem Gegenüber, oder einfach: nach einem Familienalbum. Denn stets fotografiert sich dieses nicht zu fassende Wesen in den fremden Wohnungen selbst und bevorzugt als Hintergrund jene eingerahmten glücksentschlossenen Familienaufnahmen, die man auf Regalen oder Sideboards zur Schau stellt.

Eines Tages gesellt sich noch eine zweite Person aufs Foto. Bei einem seiner Einbrüche trifft der Fremde auf eine junge Frau, die in ihrer eigenen Wohnung nicht mehr zu Hause scheint, weil sie von ihrem Mann übel zugerichtet wurde. Für die Seelenverwandtschaft der beiden reicht Kim Ki Duk ein einziger Blick. Die traurigen Gesichtszüge des jeweils anderen werden zum Spiegelbild eigener Schmerzen und Sehnsüchte.

Auch in „Bin Jip“ führt Kim Ki Duk die Verletzungen und Schicksale seiner Helden nicht weiter aus. Auch dieser Film folgt einer ganz eigenen Logik, die man nicht unbedingt durchschauen muss. Das Kino des Koreaners maßt sich gar nicht an, die Psyche seiner Helden restlos ergründen zu können. Stattdessen nimmt es sich die Freiheit, den Figuren und Geschichten ein Eigenleben zuzugestehen. Alles bleibt in der Schwebe. Auch die Liebe. In Kim Ki Duks früheren Filmen wie „The Isle“ oder „Address Unknown“ mussten sich die Figuren stets gewaltsam Wege suchen, um überhaupt gehört zu werden. Die Menschen schrien und litten aneinander vorbei, wandelten das erfahrene Leid in neues um.

In „Bin Jip“ hingegen werden zwei ein Paar, ohne dass sie überhaupt je ein Wort miteinander wechseln müssen. Es ist gerade das Schweigen, das den seltsam schönen Reiz dieser Liebe ausmacht. Fast schlafwandlerisch wird das Paar fortan durch die Stadt ziehen, gemeinsam in weitere Wohnungen einbrechen, deren Bewohner verreist sind. Die Streifzüge durch private Welten entwickeln sich zur Erkundungsreise durch das heutige Korea. Mit den Liebenden wandelt auch der Zuschauer durch geschmacklos vollgestopfte Villen, triste Hochhausgegenden und durch die alten, von traditionellen Bauten geprägten Stadtteile. Doch je weiter die beiden in andere Leben vordringen, desto mehr scheinen sich ihre eigenen Existenzen zu verflüchtigen. Als könne sich ihre Liebe in keiner Daseinsform mehr niederlassen. Wie Gefühlsnomaden ziehen sie weiter, passen sich der jeweiligen Umgebung an.

Dabei übernehmen Kim Ki Duks ruhige Einstellungen den Schwebezustand dieser sehnsüchtigen Wanderer. In „Bin Jip“ bekommen wir es mit Gefühlen zu tun, die alle Widerstände und sogar die Naturgesetze überwindet. Zwei Paar in einander verschränkte Füße auf einer Waage, die kein Gewicht anzeigt. Wann durfte man auf der Leinwand je eine so schöne, leichte, ja schwerelose Liebe sehen?

„Bin Jip“. Regie und Drehbuch: Kim Ki Duk. Mit Seung-yeon Lee, Hyuk-ho Kwon, Jin-mo Ju, Jeong-ho Choi, Mi-suk Lee. Korea 2004, 88 Min.