Lyrik am Lkw

Zum 50. Todestag von Thomas Mann: Warum Laster nicht am Zauberberg halten

Ich habe heute schon drei Zeitungen durchgeblättert. Zeitungen geben mir nichts mehr. Ich nehme meinen Wagen und fahre zur Autobahn. Ich will mich entspannen und fahre zum Rasthof Frechen, Lkws lesen. Kurzprosa auf Hänger-Planen. Drei-Wort-Literatur. „EHZ – Kompetenz in Stein“. Das mag ich. Keine Schachtelsätze. Nicht dies endlose Thomas-Mann-Geschwurbel. Wie im „Zauberberg“. Seite 304:

„Das spätere Geschäft der Verwesung sah er vorweggenommen durch die Kraft des Lichtes Komma das Fleisch Komma worin er wandelte Komma zersetzt Komma vertilgt Komma zu nichtigem Nebel gelöst Komma und darin das kleinlich gedrechselte Skelett seiner rechten Hand Komma um deren oberes Ringfingerglied sein Siegelring Komma vom Großvater her ihm vermacht, Komma schwarz und lose schwebte Doppelpunkt ein hartes Ding dieser Erde womit der Mensch seinen Leib schmückt Komma der bestimmt ist Komma darunter wegzuschmelzen Komma so daß es frei wird und weiter geht an ein Fleisch Komma das eine Weile wieder tragen kann Punkt.“ Fürchterlich!

Dagegen aber eine Lkw-Aufschrift wie: „Lückenlos guter Beton“. Das ist ein Satz wie von Hemingway! Der alte Mann und das Meer. „Der alte Mann war dünn und hager Komma mit tiefen Falten im Nacken Punkt.“ Wie von Hemingway gemeißelt: „Lückenlos guter Beton!“ oder „Kompetenz in Stein!“. So eine Nachricht auf der Wagenplane beruhigt mich mehr, als die Bibel mir je Trost bringen könnte.

Manchmal sind übrigens auch in Ladenschaufenstern geheimnisvolle Nachrichten zu lesen: Bei Lidl Kassel lese ich: „Frischfleisch – neu!“ Ich kaufe seitdem nicht mehr woanders. Bei Rewe Köln auf der Rhöndorfer Straße: „Warum woanders suchen, wenn hier finden!“ Ein bisschen lang vielleicht, aber die Message!

Ich sehe einen neuen Lkw und lese: „Deutsche See – Fischmanufaktur!“ Da weiß man sofort, worum es geht. Hering, einzeln und von Hand gemacht

Dann entdecke ich ein richtiges Werk von geradezu Tolkien’schem Umfang auf grüner Plane: „Wir bringen die original Spreewälder Gurken. Spreewaldhof – der Heimathof für Gurkenfans!“ Lese beim Umrunden des Fahrzeugs auf der Seitenplane tatsächlich die Worte: „Meine Gurke hat Vorfahrt.“

Auf dem nächsten Lkw steht: „Sanitär Wegmann – unterwegs zu einem zufriedenen Kunden!“ Ich empfinde das als sehr optimistisch!

Erst: „Pflasterstein Müller – Wir machen nicht nur Frauen den Hof!“; dann: „Soestmeyer – We Know how“. Großartig. Ich fordere Literaturpreise für die Kürzestform. Schön fände ich auch „Reime für schnelle Leser“, also „Lyrik am Lkw“. Die Ballade oder auch das Sonett als Form ist für das Lesen im Vorbeifahren vielleicht zu lang, aber ein kleiner Zweizeiler oder ein Vierzeiler auf der Lkw-Plane: „Suchst du in dem vielen ausschließlich nach stabilem nach dem festen Sein – Kompetenz in Stein“. Oder: „Ist der Tag auch noch so grau, we know how“.

BERND GIESEKING