Das wahre Geschlecht

Von der Unmöglichkeit, ein Kulturmensch und unpolitisch zugleich zu sein: Thomas Manns radikale Kehrtwendung vom bekennenden deutschnationalen Ästhetizisten zum Streiter für die Republik

Die „Betrachtungen“ sind Thomas Manns Auszug aus der verbilderten Welt ästhetischer Indifferenz

VON ULRICH RÜGER

Am 12. März 1918 wird der Dichter Frank Wedekind auf dem Münchner Waldfriedhof zu Grabe getragen. Als in der Trauerrede der Satz fällt: „Die Verpflichtung zum Geiste, die wir Religion nennen, ist ihm aufs lebhafteste bewusst gewesen“, setzt ein Trauergast seinen Zylinder auf, entfernt sich von der Trauergemeinde und fährt erbost nach Hause. Der fliehende Trauergast heißt Thomas Mann, und der Grabredner ist sein älterer Bruder, der Schriftsteller Heinrich Mann. Von ihm fühlt sich Thomas Mann verfolgt bis in seine Träume. Er ist der so genannte Zivilisationsliterat, der durch Thomas Manns „Betrachtungen eines Unpolitischen“ geistert: als Inbegriff geheuchelter Menschenliebe, die unter dem Deckmantel des Geistes und der Politik Deutschland entdeutschen will durch Demokratisierung.

Heinrich Mann hatte 1904 etwas überraschend seine Leidenschaft für die Demokratie und für Frankreich entdeckt, ohne dass dadurch das Verhältnis zu Thomas Mann getrübt worden wäre: Thomas klagt dem älteren Bruder brieflich über „die Unfähigkeit, mich geistig und politisch zu orientieren“, und in einem anderen Brief über seine Heirat mit Katia Pringsheim, durch die er zu einem vermögenden Mann geworden war: „Du nennst mich bestimmt einen feigen Bürger, aber du hast leicht reden. Du bist absolut. Ich dagegen habe geruht, mir eine Verfassung zu geben.“

1914 bricht der Erste Weltkrieg aus und das intellektuelle und künstlerische Deutschland gerät in eine nationalistischen Rausch. Thomas Mann reiht sich zum Staunen seiner Umgebung mit seinen „felddienstmäßig gerüsteten“ „Gedanken zum Krieg“ und „Friedrich und die große Koalition“ in die Front am Schreibtisch ein. 1915 antwortet Heinrich Mann in seinem Essay „Zola“ den Schreibtischsoldaten. Sie seien „unterhaltsame Schmarotzer“ und „geistige Mitläufer, die schuldiger sind als selbst die Machthaber“.

Thomas Manns Antwort sind die „Betrachtungen eines Unpolitischen“. Sie sind, wie es in der Einleitung heißt, „die Darstellung eines innerpersönlichen Zwiespaltes und Widerstreites“ „eine ungeheure kindlich-hypochondrische Pedanterie“, „schwankend, nebelhaft, unzulänglich“ und gleichzeitig Thomas Manns Auszug aus der verbilderten Welt ästhetischer Indifferenz. Die Antwort Thomas Manns darauf, wo er politisch stehe, ist Ironie. Jene „Ironie nach beiden Seiten hin, woraus etwas Unverächtliches zu machen die Aufgabe meines Lebens ist“, und die er immer als sein geistiges Lebenselement sehen wird. Die vermeintliche Ironie erweist sich in den „Betrachtungen eines Unpolitischen“ als eine Haltung, die weder unpolitisch ist noch ironisch, sondern in einer ungebrochenen Tradition der Begeisterung für deutsche Obrigkeitsstaatlichkeit liegt: Wie der blutige Schaum vor dem Mund Martin Luthers in der Schrift „Wider die räuberischen und mörderischen Bauern“; wie das Opernglas, das Arthur Schopenhauer dem österreichischen Offizier leiht, damit er die aufständische „Kanaille“ besser trifft, die sich bei dem Aufstand 1848 hinter der Barrikade unter dem Fenster seiner Wohnung „Schöne Aussicht 17“ verschanzt hat. Hätte Schopenhauer etwas weiter östlich in Dresden gewohnt, dann hätte sein Opernglas dabei helfen können, den königlichen Kapellmeister Richard Wagner zu treffen, der dort auf Seiten der Aufständischen kämpft und nach dem Scheitern des Aufstands 1848 steckbrieflich gesucht in die Schweiz flieht, wo ihm der bayerische König Ludwig II. ein fürstliches Domizil finanzieren wird. Von dort schickt Wagner dem verehrten Schopenhauer einen Sonderdruck seines „Rings des Nibelungen“. Schopenhauer, der Mozart und Rossini vorzieht, hält sich bedeckt, und Richard Wagner muss mit dem Schopenhauer-Schüler Friedrich Nietzsche vorlieb nehmen.

Diese merkwürdige Gesellschaft ruft Thomas Mann in den „Betrachtungen“ zum Zeugen auf für die welterlösende Aufgabe des Deutschtums. Er stört sich weder daran, dass Schopenhauer vor dem Nationalstolz warnt, der „in dem damit Behafteten den Mangel an individuellen Eigenschaften (verrät), auf die er stolz sein könnte“, noch daran, dass in Nietzsches Augen „das deutsche Reich die Austreibung des deutschen Geistes bedeutet“ und „deutsch sein heißt, sich zu entdeutschen“.

Stattdessen entdeckt Thomas Mann die Musik als Wesenskern des Deutschen. Der Glaube an die Musik aber, als der wahrhaftige Ausdruck dessen, was die Welt im Innersten zusammenhält, ist das, was Thomas Manns „Dreigestirn“ verbindet gegen eine feindliche Welt, die eigensinnig und verstockt beharrt auf dem Feind der Musik – der Politik. Politik nämlich ist Demokratie, die die Musikalität der Deutschen verwandelt in einen „wölfischen Merkantilismus“ in einen so genannten Fortschritt, dessen materialistischer Krämergeist unaufhaltsam das Einzige auslöschen wird, was das Leben lebenswert macht: die Kultur.

Darum verlässt Thomas Mann erbost die Beerdigung Wedekinds, weil der verblendete Bruder Religion als Geist verunglimpft, dabei ist doch Geist, wie Thomas Mann weiß, das Gegenteil von Religion: Auflösung, Skeptisierung, Politisierung, die dem irrationalen Grund der Kultur das Wasser abgräbt. Musik ist für Thomas Mann Richard Wagner. In Wagners Musik tönt „das Ur-Epische, das Erste und Einfachste, das Vor-Konventionelle und Vor-Gesellschaftliche“. Es „weiß vom Gesellschaftlichen nichts und will nichts davon wissen. Denn das Gesellschaftliche ist nicht musikalisch und überhaupt nicht kunstfähig.“

Die verwickelte Frage „ ‚Was ist deutsch?‘ “ schreibt Thomas Mann 1944 (!) „findet vielleicht mit der Feststellung dieses Unterschiedes ihre bündigste Antwort“. Der frühe Thomas Mann glaubt nicht nur an die Musikalität Deutschlands, sondern auch an die innere Verbindung von Musik, Erotik und Tod. Der „Verfallsprinz“ und „Musikaszendent“ Hanno Buddenbrook, der Musik verfallen, abgestoßen vom gesellschaftlichen Kosmos der Verstellung, „dem spöttischen, bunten und brutalen Getriebe“, „zuckt zusammen vor Furcht und Abneigung bei der Stimme des Lebens“ und haucht sein Ja zum Tod in Gestalt des Typhus. Der untergründige Zusammenhang von Erotik, Musik und Tod wird suggestiv erfasst in Horkheimer und Adornos Interpretation der Episode von Odysseus, der sich an den Mast fesseln lässt, um die Sirenen hören zu können, deren Gesang jeden Seefahrer mit unwiderstehlicher Macht in den Tod reißt. Die Kunstmusik, so Horkheimer/ Adorno, sei die gebändigte Verführung, in der das tödliche Glücksversprechen sublimiert wird zur gemeinsamen Kontemplation im Konzert. „Der begeisterte Ruf nach Befreiung verhallt schon als Applaus.“

Der Tenor, auf den die Dialektik der Aufklärung gestimmt ist, ist die Angst vor der Natur. Ihr Untergrund ist die Angst des Mannes vor seiner inneren Natur. Ihr symbiotisches Glücksversprechen erscheint gleichzeitig als Versuchung und als Drohung vollständiger Auflösung dessen, was Schopenhauer „principium individuationis“ nennt. Die wildgewordene Naturbeherrschung, die in der Natur einen durch Aufklärung zu beherrschenden Feind sieht, ist dafür ebenso ein Symptom wie der Krieg als „homosexuelle Konkurrenz“ (Paul Virillio). In den „Betrachtungen“ heißt es über Nietzsche: „Die ungeheure Männlichkeit seiner Seele, sein Antifeminismus, Antidemokratismus – was wäre deutscher?“ Dagegen heißt es über die „Feinde“: „Man müßte weniger gut Bescheid wissen über das Wesen dieser gepriesenen ‚allgemeinen Menschenliebe‘, sie ist periphere Erotik. Wo sie verkündet wird, wo man sich mit ihr brüstet, da pflegt es im Zentrum zu hapern.“

„Der Feind ist die eigene Frage in anderer Gestalt“, heißt es bei Schopenhauer, und so fällt auf, dass es bei den Vertretern des deutschen Militarismus, angefangen mit Friedrich II., Wilhelm II. und Hitler, im Zentrum gehapert hat, gerade so als erlöse das Militärische von einer als defekt empfundenen Männlichkeit. In seinem Tagebuch von 1933 wird Thomas Mann die Deutschen das „homoerotische Volk“ nennen. Thomas Mann werden die „Betrachtungen“ immunisieren gegen den nationalen Rausch einer symbiotischen Volksgemeinschaft, die alles, was die Symbiose zu stören scheint, nach außen projiziert, um es zu vernichten. Das Glücksversprechen nationaler Symbiose, die sich dem Rausch der Führerschaft hingibt, endet in der endgültigen Symbiose, der des Todes – vor allem der eingebildeten Feinde –, und Thomas Mann wird einer der Ersten sein, der genau das vorhersieht und sich in einer radikalen Kehrtwendung wandelt vom bekennenden „Unpolitischen“ zum Warner und Rufer, der seine rhetorischen und polemischen Fähigkeiten in den Dienst der Republik stellt. Es bleibt nicht bei dem Bekenntnis, er fürchte, mit seinen „Betrachtungen“ „dem Obskurantismus Waffen geliefert zu haben“. 1922 bezeichnet er München als die Stadt Hitlers und sieht, dass seinen Anhängern die Totschlagelust ins Gesicht geschrieben ist. Er erkennt, „dass es ein Irrtum deutscher Bürgerlichkeit gewesen war, zu glauben, man könne ein unpolitischer Kulturmensch sein“, und versucht Sozialdemokratie und Bürgertum zu überzeugen, sich gegen die drohende Gefahr von rechts zu verbünden. Die Dialektik der Aufklärung entdeckt als Lösungsstrategie gegen einen entfesselten Krieg gegen die Natur und gegeneinander aus dem Geist der Angst das „Eingedenken der Natur im Subjekt“.

Wenn das Anerkennen und Integrieren des Weiblichen dazu einen ersten Schritt darstellt, dann vollzieht ihn Thomas Mann nach dem Ersten Weltkrieg und stellt ihn im „Zauberberg“ als die Liebe zum Leben statt zum Tod dar. Die Rhetorik der „Betrachtungen eines Unpolitischen“ werden im 1926 erschienenen „Zauberberg“ zwei eher suspekten Figuren, Settembrini und Naphta, in den Mund gelegt. Der Held des Buches, Hans Castorp, Kranker unter Kranken, lässt die Männer reden, hört zu, schweigt – und liebt die Französisch sprechende Russin Clawdia Chauchat. Heimliches Zentrum des Romans ist die Gestalt Peeperkorns, das Zeichen seiner Majestät ist körperliche und sinnliche Präsenz, die sich Sprachlosigkeit leistet. In der Gestalt Peeperkorns wird sich Gerhart Hauptmann wiedererkennen, der bekannt dafür ist, sich als Goethe zu inszenieren. Parallel zum „Zauberberg“ arbeitet Thomas Mann an dem Essay „Goethe und Tolstoi“. Goethe, der die Geschichte des Menschen für das Absurdeste überhaupt hielt, umwirbt stattdessen die Natur, deren Weisheit über aller Vernunft steht, im Versuch einer poetischen Naturwissenschaft, die er als Lebensaufgabe ansieht. Thomas Mann wird Goethe in „Lotte in Weimar“ die Worte in den Mund legen: „Ist ja Originalität das Grauenhafte, die Verrücktheit, (…) Künstlertum ohne Werk. Ich verachte sie unsäglich, weil ich das Productive will, das Weibliche und Mannheit auf einmal. Ich bin die androgyne Kunst, bestimmbar durch alles, aber bestimmt durch mich, bereichert das Empfangene die Welt.“ In der Versöhnung mit dem Weiblichen am Leitfaden Goethes entdeckt Thomas Mann den Künstler als androgynes Geschlecht. Es ist das wahre.