Der Kinogott kann irren

Die schönsten Filme des diesjährigen Festivals in Locarno erzählten von Verschwundenen, Angst und Verunsicherung. Und manchmal schoben sich die Bilder des Kinos auch noch über den eigenen Tag

Den Goldenen Leoparden bekam leider der Episodenfilm „Nine Lives“ – die Welt ist ungerecht

VON ANKE LEWEKE

Der Filmkritiker an sich ist ein träges Wesen. Er sitzt und glotzt und sitzt. Manchmal muss er sich jedoch aus seinem Kinostuhl erheben und nach draußen gehen. Zuweilen zeigt sich die Wirklichkeit gnädig und gaukelt ihm vor, dass er noch weiter im Kino sitzt – etwa beim nun zu Ende gegangenen Filmfestival von Locarno.

Über fünfzig Mal hat Orson Welles während der Dreharbeiten zu seinem leider nie vollendeten Psychothriller „The Deep“ eine Segelyacht in Brand stecken lassen. Einige dieser flammend roten Einstellungen wurden auf der diesjährigen Welles-Retrospektive in Locarno vorgestellt. Wenn dann am selben Nachmittag bei einem Spaziergang entlang der Seepromenade ein Motorboot in Brand gerät, ist man durchaus geneigt, an das Wirken höherer Mächte zu glauben.

Vielleicht war es auch der Kinogott, der die winzig kleine Jennifer Jason Leigh in die Umkleidekabine der örtlichen Markenboutique schickte. Muss man sich eigentlich schämen, wenn man als Kritikerin mit rotem Ohr am eigenen Kabinenvorhang hängt? Und wie gelangt man von so einem szenischen Artikeleinstieg wieder zur seriösen Festivalberichterstattung?

Also erstens: Locarno hat seit diesem Sonntag einen neuen Leiter. Er heißt Frédéric Maire, stammt aus der französischen Schweiz, arbeitete vor Jahren schon einmal für das Festival und wird nach Locarno ziehen. Letzteres ist ein entscheidender Punkt, nahm man doch der bisherigen Leiterin Irene Bignardi stets übel, dass sie ihren Wohnsitz in Rom behielt und in Locarno nicht immer greifbar war.

Zweitens: Die Wettbewerbsfilme fügten sich zu einem übergreifenden Thema, das man keineswegs an den Haaren herbeiziehen musste. Gleich mehrere Filme aus verschiedenen Ländern erzählten von verschwundenen Familienmitgliedern und der Verunsicherung, Trauer, Zerrüttung der Zurückbleibenden.

Während das iranische Kino sich zumeist auf die staubigen Straßen, in Städte und Landschaften begibt, spielt Bizhan Mirbaqeris Film „We are all fine – Uns geht es gut“ in der Wohnung eines Teheraner Familienclans. Vor Jahren ging der älteste Sohn ins Ausland, ohne sich je wieder zu melden. Auch das erwartete Geld blieb aus. Über einen Mittelsmann wird die Familie gebeten, einen Grußfilm für den Abwesenden zu drehen. Mit diesem einfachen Trick gelingt es Mirbaqeri, verschiedene Generationen, Standpunkte und Konflikte vor dem Objektiv zusammenzurücken. Während der Monolog der Mutter eine heile Welt behauptet und über die finanzielle Misere hinwegredet, schlägt der schwer kranke Vater dem Sohn seine ganze Verzweiflung um die Ohren. Auch die verlassene Ehefrau und der jüngere Bruder senden ihre Botschaften. Zwar wird der Verschwundene immer noch als Stammhalter stilisiert, doch längst lastet alle Verantwortung auf der Tochter des Hauses. Sie, die als Einzige nicht an der Grußbotschaft teilnimmt, sorgt in Jeans und Schleier selbstbewusst für den Lebensunterhalt, arbeitet, besorgt Medikamente – ohne dafür irgendeine Anerkennung zu erlangen. In dieser Diskrepanz zwischen der tatsächlichen und der zugegebenen Rolle der iranischen Frau liegt der unaufdringliche, aber eindeutige Kommentar dieses Films.

Um die konzentrischen Kreise rund um einen Verschwundenen geht es auch in Florian Hoffmeisters Film „3 Grad kälter“, der sich mit „Uns geht es gut“ den Silbernen Leoparden des besten Nachwuchsfilms teilte. Es geht um einen Sohn, der seine Familie, die Clique und die Freundin vom einen auf den anderen Tag verließ. Die plötzliche Rückkehr des Verschwundenen soll hier zu einer Revision aller Lebenswege führen. Verlässt sich sein iranischer Kollege auf die Einfachheit seiner Videobilder, ergeht sich der auch als Kameramann arbeitende Hoffmeister in Tableaus der Innerlichkeit und bleiernen Schwere. Man muss „3 Grad kälter“ nicht gleich als Generationenporträt lesen, als Sinnbild der Unsicherheit und Bindungsangst. Doch manchmal entdeckt die Kamera in den Großaufnahmen eine Wahrheit. Dann reicht es, sich Meret Becker als eine der Freundinnen anzuschauen, ihr Gesicht, in dem alles miteinander hadert: die Liebe zu ihrem Mann und die Verletzungen angesichts seiner Untreue, die Frage nach dem zweiten Kind und die Furcht vor der Trennung.

Zukunftsangst, Verständigungsschwierigkeiten, Orientierungslosigkeit im Leben und in der Liebe – zwangsläufig muss sich ein Bilderpool wie Locarno solchen Zeiterscheinungen stellen. Und doch gab es einen Film, der diese allgegenwärtigen Phänomene in eine uns fremde Wirklichkeit überführte. Indem er das vertraute Kinogefühl des Driftens, der Suche nach Zugehörigkeit und Identität, als Eintrittsschleuse in eine immer noch vom Bürgerkrieg zerrüttete Stadt nutzte. In „A Perfect Day“ von Joana Hadjithomas und Khalil Joreige begleitet die Kamera einen jungen Mann auf seinen Fahrten durch das wiederaufgebaute Beirut. Der Film erzählt vom Liebeskummer eines jungen Mannes, von alten Männern, denen nichts mehr bleibt, als auf der Straße eine Zigarette zu schnorren, von Bürgerkriegsleichen, die auf Baustellen gefunden werden. Und von der Mutter des Helden, die immer noch auf ihren Mann wartet, der wie 17.000 andere Männer während des Krieges einfach verschwand.

Man hätte „A Perfect Day“ den Goldenen Leoparden gegönnt. Genauso gut hätte „Fratricide – Brudermord“, Yilmaz Arslans deutsch-türkisch-kurdische Abrechnung mit der Multikulti-Fantasie statt des Silbernen Leoparden den Hauptpreis gewinnen können. Den bekam aber Rodrigo Garcías kunstgewerblicher Episodenfilm „Nine Lives“, eine mit Hollywoodstars aufgepeppte Aneinanderreihung von neun primitiv emanzipatorischen Frauenportäts. Die Welt ist offenbar nicht nur beziehungsgestört und verunsichert, sondern auch noch ungerecht.