sozialkunde
: Nachhaltig: das Holocaust-Mahnmal

Faszination und Distanzierung gehen beim Stelenfeld so sehr Hand in Hand, dass den Priestern des Sinns schwindelig wird

Der große Erfolg des Holocaust-Denkmals in Berlin-Mitte ist eine der unauffälligeren, aber möglicherweise nachhaltigeren Überraschungen dieses an Überraschungen nicht eben armen Sommers. Wer hätte damit gerechnet, dass aus diesem Denkmal zur Erinnerung an einen millionenfachen Mord einer der größten Anziehungspunkte für Touristen und ein beliebter Treffpunkt für Berliner wird? Nun gut, dem Tourismus in Berlin scheint gegenwärtig sowieso nichts heilig zu sein. Man schaut sich alles an, man schreckt vor nichts zurück. Kaum 10 Minuten nach Eröffnung des neues Hauses der Akademie der Künste am Pariser Platz im Mai dieses Jahres standen die ersten neugierigen Touristen, wie man hört, bereits im letzten Winkel des Hauses im Büro des Geschäftsführers. Jean Baudrillard nannte dies 1977 angesichts der ebenso unbekümmerten Inbesitznahme des unter Parisern umstrittenen Centre Pompidou durch die Touristen den „effet Beaubourg“, die Übersetzung einer sinnlosen Diskussion in eine schlichte Implosion.

Aber es wäre nicht richtig, es angesichts der Attraktivität des Holocaust-Denkmals bei einer Erklärung dieser Art bewenden zu lassen. Es spielt sich noch etwas anderes ab, was etwas mit der Qualität der von Peter Eisenman entworfenen Architektur dieses Denkmals selber zu tun hat. Faszination und Distanzierung, Neugierde und Vergessen, Konzentration und Zerstreuung gehen hier so sehr Hand in Hand, dass es den alten Priestern und Pädagogen des Sinns schwindlig wird. Aber zugleich schreibt sich der so erfahrene Ort einem Sinnes- und Körpergedächtnis ein, das nicht weniger prägnant ist und sich schon deswegen der Zumutung eindeutiger Interpretationen und rituell dazu einzunehmender Haltungen entzieht.

Die Überraschung des Holocaust-Denkmals besteht darin, dass es zugänglich und begehbar ist und damit offen für Formen des Umgangs mit ihm, in denen man auf den Anlass des Gedenkens immer wieder zurückkommen kann, aber nicht in ihm stecken bleiben muss. Das Stelenfeld ist kein Objekt, das den Betrachter in eine kontemplative Haltung des erschütterten Gedenkens zwingt, sondern ein Ort, an dem dieses Gedenken eingebettet ist in die Attraktivität von Zeit und Stunde, Begleitung und Begegnung. Dieses Denkmal individualisiert nicht in die Haltung einer moralisch erschütterten Melancholie, wie sie die Frankfurter Schule seit Theodor W. Adorno dem deutschen Gemüt mit gutem Grund verschrieben hat, sondern es kollektiviert in die Haltung einer leicht übermütigen Neugierde, die wissen will, mit wem man in diesem Stelenfeld unterwegs ist, wer was in ihm treibt, wer wann auf welche Ideen kommt und wie man etwas von dem, was hier passiert, mit hinausnehmen kann in die anonyme Distanz der Großstadt.

Der Effekt ist paradox. Nichts wäre intransparenter als ein Feld, in dem große, graue Blöcke es unmöglich machen, zu wissen, wer sich in ihm bewegt. Und nichts liefert eindeutigere Einblicke als jede einzelne Kreuzung, die nach links und rechts, nach vorne und hinten den Blick über das gesamte Feld freigibt. Zwischen beiden Perspektiven wechselt man laufend hin und her, sodass jede Begegnung eine Überraschung ist und jedes Verschwinden längst erwartet wurde. Man kann es gar nicht vermeiden, miteinander Verstecken zu spielen und auszuprobieren, wie man sich bewegen muss, um gerade eben immer wieder gefunden werden zu können. Liebespaare können nicht entscheiden, ob sie ganz unter sich oder allen Blicken freigegeben sind. Man kennt diese Effekte aus einem Labyrinth, aber hier kommt hinzu, dass es keine Irrwege gibt und man sich trotzdem aus den Augen verlieren kann. Man weiß immer, wo man selber ist, aber nie, solange man ihn nicht sieht, wo der andere ist.

Die Erinnerung an die ermordeten Juden wird so eingebettet in eine ganz unwillkürliche Entdeckung und Erfahrung jener Dimension des Sozialen, die der Faschismus zu leugnen versucht. Jede Gesellschaft oszilliert zwischen Intransparenz und Transparenz und findet genau darin die immer wieder wechselnden Muster einer Geselligkeit, die durch und durch ziviler, nämlich überraschungsfreundlicher Art ist. Das schwere Dunkel der Stelen macht deutlich, dass an dieser Geselligkeit nichts selbstverständlich ist. DIRK BAECKER